„Die Gültigkeit von Dichtung als mögliches Beweismittel vor Gericht; der Diskurs über das Sehen, Verstehen und Mitgefühl; die Frage nach Gerechtigkeit, Souveränität und Selbstbestimmung – fügen sich in eine Konstellation von bewegten Bildern und Stills, Texten, Büchern, Flugblättern, Musik, Objekten, Samenkörnern, Geschehnissen und Prozessen.” (Amar Kanwar)
Seit über einem Jahrzehnt hält der indische Künstler und Filmemacher Amar Kanwar die destruktiven Folgen der Industrialisierung filmisch fest, die weite Teile der Landschaft des ostindischen Odisha umgeformt und teilweise für immer zerstört haben. Seitdem indische und internationale Unternehmen in den 1990er Jahren großflächigen Bergbau- und Industrieanlagen in diesem traditionell landwirtschaftlichen Gebiet angesiedelt haben, hat sich Odisha in ein “Schlachtfeld um Themen der Enteignung und Vertreibung” verwandelt. Hochwertige Bauxit- und Eisenerzablagerungen wurden in gewaltige Abbaugebiete verwandelt und sind über massive Infrastrukturprojekte gespeist. Der daraus entstehende Konflikt um die Kontrolle über agrarwirtschaftliches Land, Wälder, Flüsse und Mineralbestände zwischen lokalen Gemeinden, Staat und Unternehmen hat zu Zwangsübersiedlungen indigener Stammesgemeinschaften und Kleinbauern geführt und eine nicht abreißende Flut der Gewalt, Unterdrückung und Brutalität erzeugt, die ebenso willkürlich, unvorhersehbar, zerstörend wie unsichtbar ist.
The Sovereign Forest birgt, bringt zur Erscheinung und sammelt all jene seltenen Beweismittel dessen was zuvor in diesem Schaugebiet des ‚modernen Krieges’ verborgen gehalten und unterdrückt, das was verschwunden und durch ihn verdrängt wurde. Anstatt jedoch einen dokumentarischen und beweisenden Blick auf das Verbrechen ‚wie es tatsächlich passiert’ zu werfen, inszeniert Kanwar tatsächlich gefundenes Material und gesammelte Bilder, Spuren und Aufzeichnungen von etwas, das das Faktische übersteigt und eine reichere, fluide und poetische Perspektive auf die Realität und die ‚’Bedeutung, dessen was passiert’ eröffnet.
The Sovereign Forest schafft so eine Reihe von Prämissen, die die Behauptung von ‚Poesie als Beweismittel’ untersuchen. Poesie trägt demnach die Möglichkeit in sich vielfältige und kontingente Beziehungen zwischen Gewalt, Erinnerung und Sprache auszudrücken und unterschiedliche Vokabulare für unterschiedliche Erinnerungen und Archivierungsarten für das Erzählen einer Geschichte zu schaffen. Sehen ermöglicht hier die Beziehung zwischen Leben und Politik, zwischen dem Persönlichen und den unfassbaren und unsichtbaren Kräften gewaltsamen Fortschritts zu begreifen. The Sovereign Forest handelt dabei Fragen nach Gerechtigkeit, Souveränität und Selbstbestimmung innerhalb eines erweiterten Feldes pluralistischer Möglichkeiten neu aus und behauptet diese als Mittel für Individuen und Gemeinschaften „um eine Form von Agency und Kontrolle über die Art und Weise wie sie als politische Akteure und Gruppen sichtbar, erkennbar und adressierbar werden, zu schaffen.“ (Monika Halkort).
The Sovereign Forest ist daher weniger "bloß" Ausstellung, als vielmehr eine ständig mutierende und sich wandelnde Institution, entstanden aus dem Zusammenschluss einer Gruppe von Künstlern, Journalisten, Bauern und Aktivisten in Indien. TBA21 arbeitet seit 2006 eng mit Amar Kanwar zusammen – in diesem Jahr fand die gemeinsam mit Public Press getragene Produktion von The Lightning Testimonies (2007) statt. 2008 kommissionierte TBA21, erneut in Kooperation mit Public Press, die 19-kanalige Videoinstallation The Torn First Pages (2004).
Thyssen-Bornemisza Art Contemporary – Augarten
TBA21.org
PM
Kataloge/Medien zum Thema:
Amar Kanwar
Der Divan - Das Arabische Kulturhaus
ifa-Galerie Berlin
Galerie im Saalbau
Verein Berliner Künstler
Galerie im Körnerpark