Die Künstlerin und die Künstler, die an der Ausstellung Avante Brasil teilnehmen, stehen für eine international vernetzte und anerkannte zeitgenössische brasilianische Künstlerschaft, die offen und kritisch auf die Geschichte Brasiliens blickt. Die ausgestellten Werke räumen auf mit den exotischen Klischeevorstellungen von der künstlerischen Produktion eines Landes, „dessen Image immer noch geprägt ist von Bananen, Samba und Caipirinha“ (Marcelo Cidade). Heute sind junge Künstler aus Brasilien vertreten in Ausstellungen im New Museum in New York oder auf der Biennale Venedig (aktuell: Paulo Nazareth); ihre Kunst verstehen sie nicht zwingend als „brasilianisch“ – sie bezieht sich auf Menschen und Orte die lokal und global sein können. Einige Werke, zum Beispiel die Foto-Serie „Brasil“ von Matheus Rocha Pitta spielen darauf an: die abgebildete berühmte rote Erde Brasiliens kann ein Indiz sein für nationale Identität, das darauf drapierte Fleisch greift globale Problematiken auf (Klima, Gesundheit, artgerechte Haltung von Tieren).
Seine Größe und eine wechselvolle politische Geschichte machen es besonders schwer, in Brasilien eine bestimmte kulturelle Identität zu definieren. Die beiden
im Titel der Ausstellung enthaltenen Begriffe, Avante und Brasil, spielen darauf an.
Avante, vorwärts, voran! erinnert an das französische avant (vor) und damit an einen Begriff, der in der Kunstwelt die modernen Avantgarden charakterisiert –
wobei die Avantgarde die vorderste Front ästhetischer Neuerungen markiert. In der Geschichte Brasiliens ist dieses Wort auf unterschiedliche Weise verwendet
worden. Von der Entwicklung, die Präsident Juscelino Kubitschek in den späten 1950er-Jahren förderte, bis zu den Versuchen der Militärregierung, ein
Nationalgefühl zu erzeugen, das die politischen Spannungen während der Militärdiktatur von 1964 bis 1985 ausgleichen sollte, gehörte „Avante“ zu den Slogans, mit denen zur Beteiligung an diametral entgegengesetzten Projekten des Landes aufgerufen wurde.
Brasil ist der Name, den die portugiesischen Kolonisatoren dem 8,5 Millionen Quadratkilometer großen Land gaben, inspiriert vom rötlichen Edelholz des
Brasilbaums (portugiesisch pau-brasil), dem bedeutendsten Symbol des Landes, das zum wertvollen Handelsgut für die Kolonialherren wurde.
Vielleicht lag es an seinem kolonialen Erbe, dass Brasilien passiv und empfänglich war, wenn es um äußere Zuschreibungen seiner angeblichen (individuellen oder kollektiven) Identität ging, die auf klischeehaften Vorstellungen seiner materiellen und symbolischen Ressourcen beruhte. In der Populär-Kultur wurde dies ausgedrückt durch die in den 1940er-Jahren entstandene Walt Disney-Figur eines vermenschlichten Papageien namens José Carioca oder in Person der Sängerin Carmen Miranda, die in Hollywood das Bild einer extravaganten Frau bot, die stets mit karnevalesken Accessoires, Blüten und tropischen Früchten (dem Tutti-Frutti-Hut) geschmückt war. Diese allegorische Selbstdarstellung machte den Charakter einer kulturellen Zuschreibung sichtbar, ebenso wie die Reduktion auf eine eingeschränkte Sichtweise des Anderen – der nur unter dem (ziemlich lächerlichen) Beinamen des „Exotischen“ akzeptiert werden konnte.
Auf dem Gebiet der bildenden Kunst zeigt sich die Dynamik dieser Empfänglichkeit in der Art und Weise, wie in den 1950er Jahren das Werk Max Bills als Matrix für eine geometrisch-abstrakte Strömung der brasilianischen Kunst übernommen wurde. Letztere dominierte bald die gegenständliche Kunst und selbst die lyrische Abstraktion und mündete schließlich in der Bewegung der Konkreten Kunst, die in Rio de Janeiro und São Paulo organisiert wurde. Der Preis für Skulptur, den der Schweizer Künstler und Professor 1951 anlässlich der ersten Biennale São Paulo für sein Werk Dreiteilige Einheit erhielt, gab einer ganzen Generation die Richtung ihrer künstlerischen Untersuchungen vor.
Im Unterschied zur Generation der 1980er- und 1990er-Jahre, die nach 20 Jahren der Diktatur mit einem Szenario von Rezession und Globalisierung konfrontiert war, beziehen sich die Künstler, die in den 2000er-Jahren ihre Arbeit aufnahmen, auf ein Szenario des Wirtschaftswachstums, das zu Einschränkungen der Kommunen und des öffentlichen Sektors führte und das es dringlicher werden ließ, auf einer gesellschaftlichen und kollektiven Ebene über Lösungsmöglichkeiten nachzudenken.
Heute, im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft (2014) und der Olympischen Spiele (2016) in Brasilien, besteht erneut die Gelegenheit, zwischen Fortschritt und Entwicklung zu wählen. Während das Verkehrsaufkommen, die Immobilienspekulation, Gentrifizierung, illegale Einwanderung und der sogenannte „Custo Brazil“ [brasilianische Zusatzkosten] zunehmen, appelliert man in Brasilien an die Kunst und an die sozialen Bewegungen, ihren Diskurs zu politisieren, eine öffentliche Präsenz zu erzeugen und Wege für ein neues konstruktivistisches Projekt zu erschließen.
Dass dieser Appell angenommen wird, hat Felicitas Rohden (*1984), deutschbelgische Künstlerin und Kuratorin von Avante Brasil, in São Paulo erlebt. Im Rahmen des “Residência Artística - FAAP” Stipediums lebte und arbeitete sie ein halbes Jahr in Brasilien und pflegte intensiven Kontakt mit der dortigen Kunstszene. Sie wählte für KIT acht Positionen aus, die einen Einblick in die lebendige Szene Brasiliens geben. Die Auswahl ist das Resultat einer intensiven Recherche vor Ort. Mittels Interviews für den Blog „StudioVisits” des GoetheInstituts São Paulo und enger Zusammenarbeit mit dortigen Kuratoren, verschaffte sie sich einen Überblick über das rege künstlerische Schaffen dieses Landes.
Jonathas de Andrade, Tatiana Blass, Marcelo Cidade, Marcius Galan, Maurício
Ianês, Pablo Lobato, Paulo Nazareth und Matheus Rocha Pitta
KIT - Kunst im Tunnel
Mannesmannufer 1b
40213 Düsseldorf
ist der neue Ausstellungsraum der Landeshauptstadt Düsseldorf und der Kunsthalle Düsseldorf
PM
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