Seit ihrem Bestehen setzt sich die Sammlung Fotografie in der Pinakothek der Moderne ausstellend wie sammelnd mit aktuellen Positionen innerhalb der internationalen Fotokunst auseinander. Dieses Engagement erhält nun mit einer langfristig projektierten, alle zwei Jahre stattfindenden Ausstellungsreihe ein neues, spezifisches Format, das über das singuläre Ausstellungsereignis hinaus auch ein vielschichtiges Diskussions- und Informationsforum begründen möchte.
Vor dem Hintergrund der substantiellen Veränderungen, die die Digitalisierung in nahezu allen Lebensbereichen hervorgerufen hat, befindet sich auch die Fotografie in einem steten Prozess der Neufindung. Das fotografische Medium als künstlerisch eigenständige Ausdrucksform steht dabei nicht mehr nur im Austausch mit den klassischen Bildgattungen, sondern ebenso mit multimedialen und digitalen Bildwelten wie deren neuartigen Präsentationsformen und Distributionsverfahren. Die notwendige Anpassung an die rasante technische Entwicklung, die durch die weltweite Zirkulation der Bilder im virtuellen Raum in den letzten Jahren eine neue Dimension erreicht hat, sowie der Dialog mit anderen Medien und Bildsystemen erfordern eine kontinuierliche Neubestimmung ihrer theoretischen und ästhetischen Parameter. Ist Fotografie heute überhaupt noch das, was der Betrachter zu kennen meint und zu sehen glaubt? Wie definiert sich ihr Verhältnis zu Wirklichkeit und Authentizität einerseits, zur Autonomie des Bildes andererseits? Wie überlagern digitale, nicht fotografiespezifische Prozesse die Bildwerdung, ihre Erscheinungsformen und Rezeption?
Die Ausstellungsreihe Fotografie heute nimmt Themen und Schwerpunkte der eigenen Sammlung zum Ausgangspunkt, um der Fortschreibung fotografischer Positionen und Herausbildung neuer künstlerischer Strategien nachzugehen. Für die Auswahl zu distant realities war der umfangreiche Sammlungsbestand zur topographischen Fotografie initiierend, Werke amerikanischer und europäischer Fotografen von den frühen 1970er-Jahren bis heute. Die analytisch-beschreibenden Bestandsaufnahmen, wie sie beispielsweise Robert Adams, Bernd und Hilla Becher oder Zoe Leonard formulier(t)en, setzen sich mit dem Status quo und Wandel urbaner, suburbaner wie ländlicher Lebensräume auseinander und zeichnen die Spuren nach, die Zeit und Geschichte ihnen eingeschrieben haben.
Auch die Arbeiten von Ilit Azoulay, Mishka Henner, Inga Kerber, Mykola Ridnyi und Erin Shirreff untersuchen spezifische, oftmals gesellschaftlich oder politisch neuralgische Orte, verlassen aber die engen Grenzen eines dokumentarischen Stils und bedienen sich der vielfältigen Möglichkeiten digitaler Techniken und neuer künstlerischen Ausdrucksformen. Die analoge Fotografie, ihre Geschichte, wie die an sie geknüpften Vorstellungen bleiben dabei ein zentraler Bezugspunkt. Immer geht es in ihren künstlerischen Ansätzen auch um ein Nachdenken über das Medium und den Status des Bildes, über Wahrnehmung und Sehen sowie die komplexen Bedingungen, unter denen sich beide konstituieren. Nicht die unmittelbare Wirklichkeit ist der Referent, sondern ihr medial vermitteltes Bild, eingebettet in ein vielschichtiges, von divergierenden Kräften beherrschtes Spannungsfeld.
So übersetzt Mishka Henner in seiner zwischen 2011 und 2013 entstandenen Serie No Man’s Land die Tradition des fotografischen Road Movies ins frühe 21. Jahrhundert. Nicht mehr selbst vor Ort, sondern mittels Google Street View dokumentiert er Straßenprostituierte in Italien und Spanien und seziert zugleich die sichtbaren, aber kaum noch wahrgenommenen Ränder unserer globalisierten Gesellschaft, in der jeder zu einer Art „Ressource“ des Kapitals zu werden droht. „So gesehen“, sagt Henner, „ist No Man’s Land ein Ausschnitt aus der Landkarte des technologischen Kapitalismus, eine Kartografie seiner Reichweite und seiner komplexen Wechselbezüge“.
Für seine 33teilige Serie Under suspicion fotografierte Mykola Ridnyi Orte der öffentlichen Begegnung, wie Plätze, Supermärkte und Metrostationen, in seiner Heimatstadt Charkiw. Nachträglich eingefügte Markierungen lassen sie zu potentiellen Tatorten werden, während die zufällig ins Bild geratenen Menschen als mögliche Attentäter erscheinen. Ridnyi reagiert auf die zunehmende staatliche Überwachung seit Beginn der Protestkundgebungen in der Ukraine, auf das Misstrauen eines jeden gegen jeden, das sich seit den kriegerischen Auseinandersetzungen mit Russland schleichend auch ins Privatleben eingeschrieben hat. Dem Künstler zufolge ist Unter Verdacht ein imaginäres Archiv des zivilen Blicks in einer Zeit, wo nahezu das gesamte Alltagsleben verdächtig erscheint.
Ilit Azoulay ist eine sensible Seismographin, ihr Material die Architektur, der gebaute und umbaute Raum, aus dessen Fragmenten sie die blinden Flecken der Geschichte herausfiltert. Die mehrteilige Werkgruppe Imaginary Order ist zwischen 2012 und 2016 entstanden, erstmals sind die beiden zuletzt fertig gestellten Arbeiten ausgestellt. Ausgangspunkt der panoramatischen Foto-Assemblagen ist der Umbau eines in den 1960er Jahren erbauten, dem Gemeinwohl dienenden Sanatoriums in ein Luxus-Hotel sowie der an diesem Prozess sichtbar werdende Wandel der israelischen Gesellschaft. Zugleich legt Azoulay die verborgene Geschichte frei, die diesen exponierten Ort mit einem nationalen Trauma verbindet.
Tradierte Formen von Wahrnehmung und Zeiterfahrung herauszufordern steht im Zentrum der filmisch animierten Fotografien von Erin Shirreff. Die amerikanische Künstlerin verwendet analog entstandene Aufnahmen, eigene wie fremde, originale wie gedruckte oder aus dem Internet abfotografierte, und setzt sie digital zu Video-Sequenzen zusammen, die einen filmischen, nicht aber zeitlichen Verlauf suggerieren. Die physischen und psychologischen Bedingungen, unter denen wir eine Landschaft in Kanada oder eine Architekturikone in New York durch ihre bildliche Wiedergabe erfahren, lassen neue, imaginäre Räume entstehen.
Die in Leipzig arbeitende Fotografin Inga Kerber bewegt sich in den klassischen kunsthistorischen Genres, sie bearbeitet Themen wie Landschaft, Porträt oder Stillleben, und jedes ihrer immer mehrteiligen Werke trägt im Titel das Wort ‚Cliché‘. Kerber untersucht beharrlich, was das (vermeintliche) Wesen des Fotografischen ausmacht. In einem mehrfachen Prozess des Aufnehmens und Reproduzierens, dessen materielle Spuren sich in die Bilder einschreiben und der analoge wir digitale Komponenten verbindet, wird nicht nur das Motiv sondern auch die Bildgenese in den Mittelpunkt gerückt.
Künstler:
Ilit Azoulay | Mishka Henner | Inga Kerber | Mykola Ridnyi | Erin Shirreff
Pinakothek der Moderne und Bayerische Staatsgemäldesammlungen
Kunstareal | Barer Str. 29 | 80799 München
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