Edward Kienholz & Nancy Kienholz, The Pool Hall, 1993, Detailansicht, Gipsabgüsse, Perücken, Kleider, Geweihe, Fotografien, Billardtisch, Queues, Lampe, Leuchtkasten, 245 x 250 x 138 cm, Collection of the artist. Courtesy of L.A. Louver, Venice, CA, © Kienholz, Foto: © Kienholz, Courtesy of L.A. Louver, Venice, CA
Rebellisch, provokant und polarisierend hat das Kienholz´sche OEuvre seit seinen Anfängen Mitte der 1950er-Jahre stets großes Aufsehen erregt: zunächst die Werke von Edward Kienholz (1927–1994) allein, später, ab 1972, die gemeinschaftlichen Projekte mit seiner Frau Nancy Reddin Kienholz. Kaum verwunderlich, stehen doch Religion, Krieg, Tod, Sex und die abgründigeren Seiten der Gesellschaft mit ihren sozialen Konflikten im Zentrum der Arbeit. Mit Themen wie der sexuellen Ausbeutung der Frau in der Prostitution, der Rolle der Medien oder den Auswirkungen von ethnischen Konflikten legen sie den Finger auf Bruchstellen der westlichen Gesellschaften, die bis heute kaum gekittet worden sind und dem Werk Aktualität verleihen. Eine Zeitgenossenschaft behaupten jedoch nicht allein die Themen, heute sehen wir Kienholz vor allem auch als Vorläufer zentraler Tendenzen der zeitgenössischen Kunst, wie sie uns etwa bei Paul McCarthy und Mike Kelley, aber auch in der Produktion von Jonathan Meese, Thomas Hirschhorn oder John Bock begegnen. Die Ausstellung in der Schirn, die vom 22. Oktober 2011 bis 29. Januar 2012 zu sehen sein wird, zeigt in einer komplexen Zusammenschau die Essenz des Kienholz´schen Werks: von den ersten dreidimensionalen Arbeiten kleineren Formats über die konzeptuellen Werke bis zu den raumfüllenden Tableaus.
Die Ausstellung „Kienholz. Die Zeichen der Zeit“ wird von der Terra Foundation for American Art, dem Verein der Freunde der Schirn Kunsthalle e. V. und Škoda Auto Deutschland GmbH gefördert.
Edward Kienholz wurde am 23.10.1927 in Fairfield, Washington, geboren und starb 1994 in Hope, Idaho. Anlässlich der Ausstellung „The Kienholz Women“ in Berlin 1981/82 erklärte Edward Kienholz öffentlich die Mitautorschaft seiner Frau Nancy Reddin Kienholz an seinen seit 1972, dem Jahr ihrer ersten Begegnung, entstandenen Werken. Edward Kienholz studierte an mehreren Colleges, besuchte jedoch nie eine Kunstakademie. Bei verschiedenen Jobs als Krankenpfleger, Autohändler, Handwerker (sein Wagen trug den Schriftzug „Ed Kienholz – Expert“) und Barbesitzer lernte er unterschiedlichste Milieus kennen und sammelte Eindrücke und Erkenntnisse, die ihm später als Quelle für sein künstlerisches Schaffen dienten. Ab 1973 pendelten Edward Kienholz und Nancy Reddin Kienholz regelmäßig zwischen Hope, einem abgelegen Ort in Idaho, und Berlin, wo sie regen Austausch mit der deutschen Kunstszene pflegten.
1953 hatte sich Edward Kienholz jedoch zunächst in Los Angeles niedergelassen, wo ab 1954 erste Holzreliefs sowie kleinere Materialassemblagen entstanden. Zwei Jahre später organisierte er Ausstellungen in Los Angeles und eröffnete 1957 gemeinsam mit Walter Hopps die Ferus Gallery. Bald darauf entwickelten sich seine Arbeiten zu dreidimensionalen „Tableaux“ – raumgreifenden Environments und Installationen. Als Material dienten ihm hauptsächlich Alltagsgegenstände und Fundstücke, nach denen er gezielt Trödelmärkte durchstöberte, sowie Abfälle von den Schrotthalden und Mülldeponien der westlichen Konsumkultur – Fernseher, Autoteile, Lampen, Lautsprecher, Möbel, Goldfischgläser, Schuhe, Schilder, Flaggen, Werbeartikel, Zigaretten, Spielzeugsoldaten, Dollarnoten – und nicht zuletzt Gipsabgüsse von verschiedensten Angehöri-gen seiner Familie und seines Freundeskreises.
Diese Vorgehensweise war absolut radikal – in der Kunstgeschichte hatte es etwas Vergleichbares in diesem Ausmaß nicht gegeben. Sie erfüllte alle Kriterien der Avantgarde, die sich stets bemühte, ihrer Zeit voranzumarschieren. Allerdings war die Avantgarde auch elitär und exklusiv. Bei Kienholz ging es jedoch nie um Ausschlussverfahren. Ganz im Gegenteil: Es gibt etwas zu sagen, und das soll allen mitgeteilt werden. Ungewohnt und ungewöhnlich tritt das Werk dem Betrachter entgegen, das in seinen Realismen dem Alltag so nahe ist und dennoch weit über ihn hinausweist. Zu viel war es für das biedere Amerika der 1960er-Jahre, das die Werke als obszön empfand und dennoch, sich genüsslich an dem Skandal weidend, zu Tausenden eine erste große Ausstellung besuchte. Rebellisch, provokant und polarisierend erregte das Kienholz´sche Œuvre seit seinen Anfängen Mitte der 1950er-Jahre stets großes Aufsehen. Einen hohen Anteil daran hatten nicht zuletzt die Themen, mit denen Kienholz die Wunden der Gesellschaft offenlegte. Von Beginn an stehen Konfliktpotenziale im Zentrum: Krieg, Religion, Tod, Sex, die Macht der Medien.
„Adrenalingetränkter Zorn hat mich durch meine Arbeit getrieben“, erinnert sich Edward Kienholz an seine Anfangsjahre. Gründe gab es genug. In einer Zeit, die durch den Kalten Krieg und den Antikommunismus der McCarthy-Ära geprägt war, verband die kritischen Stimmen dieser Generation eine leidenschaftliche Verachtung gegenüber der Vulgarität und Ungerechtigkeit der Welt. Sie widersprachen den Forderungen des Konsumwahns, der Bigotterie und der Verklemmtheit, interessierten sich für alternative Wege, den Schmutz, die Ausgeschlossenen, die Randgruppen der Gesellschaft und formulierten Einsprüche gegen eine in ihren Augen enthemmte Konsumkultur.
In seinem großen Tableau „The Eleventh Hour Final“ aus dem Jahr 1968 beschwört Kienholz die Gemütlichkeit eines durchschnittlichen, achtbaren, bürgerlichen Wohnzimmers, um diese mit einem einzigen Objekt, einer einzigen Geste zu brechen und zu zerstören. Dieses Objekt ist ein Fernsehapparat aus Beton, in dem hinter der Mattscheibe stellvertretend für die Opfer ein abgetrennter Puppenkopf den Hintergrund für die Tötungsstatistiken bildet, die auf dem Bildschirm zu lesen sind. Allein der Akt des Zitierens dieser Aufzählung verdeutlicht die Absurdität einer solchen Statistik, die – und darauf rekurriert der Titel – allabendlich in den Spätnachrichten verlesen wurde. Das Fernsehgerät wird zum Monument, aber auch buchstäblich zum Denkmal medialer Manipulation.
Die Konfrontation der bürgerlichen Behaglichkeit mit den harten Gegebenheiten außerhalb dieser Welt nehmen sich aufs Eindrücklichste die „Tableaux“ „The State Hospital“ aus dem Jahr 1966 und „The Jesus Corner“ von 1982/83 zum Thema. Sie zeigen zwei unterschiedliche Aspekte der Frage, wie eine Gesellschaft mit ihren Rändern verfährt. „The State Hospital“ ist die leidenschaftlich vorgetragene Anklage gegen die Zustände in psychiatrischen Kliniken, die Edward Kienholz aus eigener Anschauung aus der Zeit kannte, in der er dort als Pfleger tätig war; „The Jesus Corner“ dagegen huldigt der Faszination für dieses Andere, das eine Gesellschaft durch ihre Outsider, Einzelgänger und Nonkonformisten gewinnt. Kurz gefasst: Toleranz gegen Kasernierung – auch dies ein Kienholz´scher Appell. Darüber hinaus ist die Assemblage mit ihren christlichen Devotionalien symptomatisch für die tiefe Skepsis gegenüber dem institutionalisiertem Glauben, die manchmal in spöttelnder Ironie, manchmal in offener Empörung in unterschiedlichen Arbeiten ihren Ausdruck findet.
Eine Fülle von Werken macht es sich zum Anliegen, dass jedem ein fairer Anteil am amerikanischen Traum zugestanden werden sollte. In der Arbeit „Claude Nigger Claude“ von 1988 rekurrieren Edward Kienholz und Nancy Reddin Kienholz auf den alltäglichen Rassismus. Claude ist das Porträt eines Schwarzen in Idaho, einem Bundesstaat, in dem der schwarze Bevölkerungsanteil verschwindend gering ist. Der Verdrängung und Zerstörung der sozialen und kulturellen Identität der indigenen Bevölkerung hingegen widmet sich „The Potlatch“ aus dem Jahr 1988. Mit „Claude Nigger Claude“ und „The Potlatch“ greifen die Künstler als Einwohner Idahos die Geschichte des amerikanischen Nordwestens aus einer sehr nahen Perspektive auf.
Andere Arbeiten erzählen von sexueller Macht und Ausbeutung. Der Utopie einer befreiten Sexualität halten sie die warenförmige Sexualität des Bordells entgegen. Werke wie „The Pool Hall“ von 1993, „The Rhinestone Beaver Peepshow Triptych“ oder „The Bronze Pinball Machine with Woman Affixed Also“, beide 1980, reflektieren kommerzialisierten Sex und Werbebilder größter Banalität, die sich tief in das Unterbewusstsein der Gesellschaft eingegraben haben. Heute, in Zeiten von YouPorn und von jederzeit und für nahezu alle verfügbaren Pornobildern wirkt ein Flipperautomat zur Triebabfuhr fast wie die Vision einer goldenen Zeit. Der Kienholz´sche Blick scheint in diesem Zusammenhang zutiefst protestantisch zu sein und oszilliert beständig zwischen Zeigefreude und aufklärerischem Gestus.
Den Höhepunkt bildet am Ende der Ausstellung die spektakuläre Installation „The Ozymandias Parade“ mit 687 blinkenden Glühbirnen in den Nationalfarben Deutschlands (die Farben werden jeweils dem Präsentationsort angepasst). Auf dem Narrenschiff in Form eines spiegelnden Pfeils wird eine dekadente Parade zum Sinnbild des Missbrauchs politischer Macht. Ob der finstere Präsident der Parade ein YES oder ein NO über dem Gesicht trägt, darüber bestimmen die Besucherinnen und Besucher. Es ist die Antwort auf eine Umfrage, die aus einer einzigen, einfachen Frage besteht: „Sind Sie mit ihrer Regierung zufrieden?“ Auf der zwei Wochen vor Ausstellungsbeginn frei geschalteten Internetseite jajaneinnein.de können Besucherinnen und Besucher an der Umfrage teilnehmen. Das Ergebnis der Abstimmung wird zur Eröffnung der Ausstellung vorgestellt.
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ÖFFNUNGSZEITEN: Di, Fr–So 10–19 Uhr, Mi und Do 10–22 Uhr
SCHIRN KUNSTHALLE FRANKFURT
Römerberg
D-60311 Frankfurt
schirn.de
Telefon: (+49-69) 29 98 82-0
Medienmitteilung
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