Mit Experten, wissenschaftlichem Beirat und Verhaltenskodex gesichert in die Zukunft.
Die documenta 15, die im Jahr 2022 in Kassel stattfand, sah sich von Beginn an mit Kontroversen konfrontiert. Im Zentrum der Kritik stand das indonesische Kollektiv ruangrupa, das die künstlerische Leitung der Weltkunstausstellung innehatte. Bereits im Vorfeld der Eröffnung wurden Vorwürfe des Antisemitismus laut, die sich im Laufe der Ausstellung weiter verstärkten und zu einer heftigen öffentlichen Debatte führten.
ruangrupa und die künstlerische Ausrichtung der documenta15
ruangrupa, ein 1999 in Jakarta gegründetes Kollektiv, ist bekannt für seinen partizipativen Ansatz und seine Fokussierung auf kollektive Prozesse und soziale Gerechtigkeit. Die Gruppe versteht Kunst als Werkzeug für sozialen Wandel und setzt sich für die Einbeziehung marginalisierter Gruppen ein. Diese Philosophie spiegelte sich auch in der Konzeption der documenta 15 wider, die unter dem Motto "lumbung" stand. Der Begriff "lumbung" stammt aus dem Indonesischen und bezeichnet eine gemeinschaftlich genutzte Reisscheune, in der die Ernte gelagert und nach dem Prinzip der kollektiven Verteilung geteilt wird. ruangrupa übertrug dieses Prinzip auf die Documenta und lud zahlreiche Künstlerkollektive aus aller Welt ein, die sich mit Themen wie Dekolonialisierung, soziale Ungleichheit und ökologische Nachhaltigkeit auseinandersetzten. Ziel war es, einen Raum für gemeinsames Lernen, Austausch und künstlerisches Schaffen zu schaffen, der auf den Prinzipien der Solidarität und der Gleichberechtigung basiert.
Antisemitismusvorwürfe und die Eskalation der Kontroverse
Die ersten Antisemitismusvorwürfe gegen ruangrupa wurden bereits im Januar 2022 erhoben, als die Gruppe die Teilnahme des palästinensischen Künstlerkollektivs The Question of Funding bekannt gab. The Question of Funding steht der BDS-Bewegung (Boycott, Divestment and Sanctions) nahe, die von der Kritik als antisemitisch eingestuft wird. BDS ruft dazu auf, Israel durch Boykotte, Desinvestitionen und Sanktionen zu „unterstützen“, bis es das Völkerrecht einhält. Die Kontroverse um BDS ist eng mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt verbunden und wird von verschiedenen Seiten unterschiedlich bewertet. Im Laufe der Ausstellung verstärkten sich die Vorwürfe, insbesondere als ein Banner des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi mit antisemitischen Darstellungen entdeckt wurde. Das Banner "People's Justice" zeigte unter anderem eine Figur mit Schweinsgesicht, Schläfenlocken und einem Hut mit der Aufschrift "Mossad", dem israelischen Geheimdienst.
Zusätzlich zum Banner von Taring Padi wurden auch andere Werke auf der documenta 15 wegen antisemitischer Inhalte kritisiert.
Die öffentliche Empörung über die antisemitischen Darstellungen war groß, und es wurden Rufe nach der Absetzung von ruangrupa und dem Rücktritt der Documenta-Generaldirektorin Sabine Schormann laut.
Reaktionen und die Debatte um Cancel Culture
Die Antisemitismusvorwürfe lösten eine breite Debatte über die Grenzen der künstlerischen Freiheit und die Gefahren von Cancel Culture aus. Während die Kritik die antisemitischen Darstellungen verurteilte und ein entschiedenes Vorgehen gegen die Verantwortlichen forderten, warnten andere vor einer Einschränkung der künstlerischen Freiheit. Die Debatte wurde in den Medien, der Politik und der Kunstwelt kontrovers geführt und spaltete die Öffentlichkeit.
So kritisierten beispielsweise jüdische Organisationen die Documenta scharf und forderten eine umfassende Aufarbeitung der Vorfälle. Verschiedene politische Parteien äußerten sich besorgt über die antisemitischen Tendenzen und forderten Konsequenzen. In der Kunstwelt hingegen gab es auch Stimmen, die die Kritik an ruangrupa als überzogen und als Versuch der Zensur werteten. Sie betonten die Bedeutung der künstlerischen Freiheit und warnten vor einer Einschränkung des Diskursraums.
Infolge der Antisemitismusvorwürfe wurden mehrere Ausstellungen und Veranstaltungen, nicht nur im Rahmen der documenta 15, abgesagt oder verschoben.
Die Zensur von Kunst und die Absage oder Verschiebung von Ausstellungen bergen die Gefahr, wichtige Diskurse zu unterbinden und den Raum für künstlerische Freiheit und kritische Auseinandersetzung einzuschränken. Es ist wichtig, differenziert mit den Vorwürfen umzugehen und einen offenen Dialog zu fördern, anstatt vorschnell zu verurteilen und zu zensieren.
Maßnahmen der Documenta und ihre Einordnung
Die Documenta setzte einen wissenschaftlichen Beirat ein, der die Aufarbeitung der Vorfälle wissenschaftlich begleiten sollte. Der Beirat besteht aus Expert:innen verschiedener Fachrichtungen und soll die Documenta bei der Entwicklung von Strategien zur Vermeidung von Antisemitismus und anderen Formen von Diskriminierung unterstützen. Zusätzlich wurde ein Verhaltenskodex entwickelt und veröffentlicht, der die grundlegenden ethischen Werte der Documenta festhält und für alle Mitarbeitenden und Beteiligten der Ausstellung bindend ist. Dieser Kodex bekennt sich zur aktiven Bekämpfung von Antisemitismus, Rassismus und jeder anderen Form von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und orientiert sich an der Arbeitsdefinition von Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA).
Die Kontroverse um die documenta 15 hat gezeigt, dass diese beiden Grundprinzipien – künstlerische Freiheit und die Verantwortung im Umgang mit Antisemitismus – miteinander in Konflikt geraten können. Es ist daher wichtig, einen sensiblen und verantwortungsvollen Umgang mit diesen Themen zu finden, der sowohl die Freiheit der Kunst als auch den Schutz vor Diskriminierung und Hass gewährleistet.
ct
Kataloge/Medien zum Thema:
ruangrupa
Verein Berliner Künstler
Stiftung Kunstforum Berliner Volksbank
Galerie Parterre
Kunstbrücke am Wildenbruch
a.i.p. project - artists in progress