Zum Jahresauftakt 2014 ermöglicht der Kunstverein Hannover mit der Ausstellung »Tell Me What You See« der Film- und Videokünstler Christoph Girardet (*1966) und Matthias Müller (*1961) erstmals einen umfassenden Einblick in ihr Gemeinschaftswerk. Gezeigt werden 11 filmische Arbeiten von 1999 bis heute sowie ergänzende Fotografien.
Seit mehr als 14 Jahren arbeiten die beiden Künstler in kontinuierlicher Zusammenarbeit mit überwiegend filmischem Fremdmaterial (Found Footage) und kombinieren Zitate und Motive unterschiedlichster Spielfilme zu neuen Erzählsträngen. Nach intensiver Bildrecherche und -auswahl lösen Girardet & Müller Fragmente der Kinogeschichte aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang und fertigen eigenständige filmische Collagen anhand ausgefeilter Dramaturgie von Schnitt und Tongestaltung.
Ihre Werke handeln von Sehen und Blindheit, von imaginären und realen Reisen oder dem menschlichen Körper und wurden bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt 2012 mit dem Arte Kurzfilmpreis. Filme von Girardet & Müller wurden sowohl auf bedeutenden Filmfestivals wie in Cannes, Venedig, Berlin präsentiert als auch in Ausstellungshäusern u. a. im Walker Art Center, Minneapolis, oder in der Tate Modern, London, international vorgestellt.
»Die Ausstellung von Christoph Girardet und Matthias Müller knüpft im Programm des Kunstvereins an Präsentationen bedeutender Videokünstler wie Omer Fast (2008/2009), Adrian Paci (2008) oder Aernout Mik (2007) an. Die Bedeutung des Werkes von Christoph Girardet und Matthias Müller geht jedoch weit über das Genre „Video“ hinaus. Durch ihre Form der Bearbeitung und Neuinterpretierung bestehenden Filmmaterials leisten sie einen eigenständigen wie faszinierenden Beitrag zur aktuellen Auseinandersetzung der zeitgenössischen Kunst mit der Moderne«, so Kunstvereins-Direktor René Zechlin.
»Wir freuen uns, mit der Ausstellung »Tell Me What You See« die verschiedenen Facetten des Gemeinschaftswerk von Christoph Girardet und Matthias Müller in bislang umfassendster Weise zu beleuchten.
Neben neuen fotografischen und filmischen Arbeiten, die speziell für die Ausstellung entwickelt wurden – so zum Beispiel »Cut« (2013), ein Film der buchstäblich unter die Haut geht – zeigen wir auch Arbeiten, die bislang ausschließlich im Rahmen von Filmfestivals vorgestellt wurden – wie den preisgekrönten Film »Meteor« (2011) – bis hin zu Werken, die den Beginn ihrer 14-jährigen Zusammenarbeit markieren. In dem Ausstellungsparcours spiegelt sich anhand von unvermittelten Brüchen wie durch das Aufgreifen und die Variation bestimmter Themen und Motive zugleich ein wesentliches Merkmal ihrer Filme«, ergänzt Ute Stuffer, die Kuratorin der Ausstellung.
In der Videoinstallation »Locomotive« (2008) untersuchen Girardet & Müller die Bedeutung des Zuges im Film als Bildmotiv, das sich bis zu den Anfängen der Filmgeschichte zurückverfolgen lässt.
Einstellungen von Eisenbahnszenen aus hunderten Spielfilmen werden in drei nahtlos nebeneinander liegenden Projektionen zu einer Metaerzählung über Abschied und Ankunft, Ende und Neubeginn, Fernsicht und Selbstbeobachtung zusammengeführt.
Das Thema der Reise kommt auch bei »Meteor« (2011), einer äußerst komplexen Filmmontage aus bewegtem Bild, Text und Musik, zum Ausdruck. Schwarz-Weiß-Szenen von träumenden, verstörten
Jungen treten hier mit farbigen Weltraumszenen aus dem Science-Fiction-Genre in Dialog und werden von Textfragmenten unterschiedlicher Märchen sowie der abschließenden Giacomo Puccini-Arie »Suor Angelica« begleitet.
Die für die Ausstellung neu produzierte Arbeit »Cut« (2013) rückt die Verletzlichkeit des menschlichen Körpers ins Zentrum. Bildern, die Schnitte durch menschliches oder anorganisches Gewebe zeigen, folgen Aufnahmen des fiebrigen oder eingegipsten Körpers. Die einzelnen Einstellungen sind von Schwarzpausen durchbrochen, um eigene Erinnerungsbilder des Betrachters zu aktivieren. Der Titel der Arbeit bezieht sich sowohl auf die Schnittwunde als Verletzung als auch auf den Filmschnitt, als grundlegendes Verfahren von Girardets & Müllers künstlerischer Technik. Die »Cut (Workprints)« (2013) geben anhand von über 600 Filmstills –eine zu Motivgruppen gegliederte Arbeitsskizze – Einblicke in den Entstehungsprozess des gleichnamigen Films.
In der vielfach ausgezeichneten Arbeit »Contre-jour« (2009) (Deutsch: Gegenlicht) kombinieren Girardet & Müller selbstgedrehtes mit angeeignetem Filmmaterial und erzeugen mit filmischen Gestaltungsmitteln ein Werk über das Sehen und Wahrnehmen. Großaufnahmen des menschlichen Auges folgen Bilder einer Augenoperation, tastender Hände oder Nahansichten von Gesichtern, deren Konturen sich aus dem Dunkel abzeichnen und wieder verschwinden. Im unvorhersehbaren Wechsel von blendendem Licht und absoluter Dunkelheit, Schärfe und Unschärfe erscheinen, verschwinden und flackern die Bilder und lösen bei der Betrachtung, unterstützt von an Kabelbrand erinnerndes Knistern, eine direkte, physische Wirkung aus.
Der Titel der Ausstellung »Tell Me What You See« (Deutsch: Sag mir, was du siehst) ist ein Zitat aus diesem Werk. Hier artikuliert sich das Bedürfnis, sich durch die Übersetzung von Gesehenem in das gesprochene Wort über die eigene Wahrnehmung auszutauschen, die zugleich als subjektiv ausgewiesen wird.
Die Dialektik von Sehen und Nicht-Sehen setzt sich in dem Film »Maybe Siam« (2009) fort. Girardet & Müller kombinieren Spielfilmszenen mit blinden Personen, die von sehenden Schauspielern verkörpert werden. Während zahlreicher Schwarzpausen sind ausschließlich Geräusche zu hören, denen das Bild verspätet und ohne Ton folgt. Der Zuschauer ist hierbei – ebenso wie die sich vorantastenden, blinden Protagonisten – auf das Hören als Orientierungshilfe angewiesen.
Das Motiv des Auges, das in den Arbeiten von Girardet & Müller immer wieder auftaucht, bekommt in der fotografischen Arbeit »Eye« (2010) und dem Kurzfilm »Necrologue« (1999) eine zentrale Bedeutung.
In der Fotoserie zerlegen Girardet & Müller die filmische Einstellung eines runden, aus der Dunkelheit leuchtenden Lichtkörpers in fünf fotografische Momente, so dass das Erstrahlen und Verglühen der Lampe das Aufscheinen und Verschwinden eines Auges in Nahansicht assoziieren lässt. »Necrolgue« zeigt eine einzige Einstellung – das Gesicht der schlafenden Hitchcock-Heldin Ingrid Bergman aus dem Spielfilm »Under Capricorn« – in ausgeprägter Zeitlupe. Indem das nahezu unbewegte Bild einzig durch das langsame Öffnen und Schließen des Auges und das Fließen einer Träne belebt wird, verkörpert die Arbeit sinnbildhaft einen Dämmerzustand zwischen Wachen und Schlafen, Leben und Tod.
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