Seit den späten 1990er Jahren untersucht Carey Young (*1970, lebt und arbeitet in London) das Verhältnis von Körper, Sprache, Rhetorik und Machtsystemen in Videos, Fotografien, Performances, Textarbeiten und Installationen. In ihren Werken untersucht sie insbesondere, wie Unternehmens- und Rechtskultur immer stärker alle Lebensbereiche durchdringen und umgestalten. Dabei verwendet Young häufig die Vertrags- und Geschäftssprache als Readymade und überführt sie durch kontextuelle Verschiebung in eine politische Dialektik mit zuweilen absurd-verspieltem Humor. Die Einzelausstellung im Migros Museum für Gegenwartskunst legt erstmals den Fokus auf Youngs rechtsbezogene Arbeiten, die «Recht» als separate Form von «Realität» mit ganz eigenen Subjektivitäten und Bruchstellen thematisieren.
Youngs Auseinandersetzung mit dem Rechtswesen als – wie sie es ausdrückt – «künstlerischem Medium» basiert auf ihrer Überzeugung, dass mit der Rechtsstaatlichkeit die einzig wirksame Begrenzung der Macht von Grosskonzernen gegeben sei. Doch geht ihr Interesse an einer «Erforschung des Rechtswesens als konzeptuellem, abstraktem Raum» viel weiter als existierende Rechtsdokumente: Es erstreckt sich auf umfassendere Themen wie Disziplin, Macht und gerichtliche Entscheidungen sowie auf die Frage nach dem Recht des Individuums auf Autonomie und Handlungsermächtigung. Young arbeitet oft mit einem Team von Rechtsanwälten zusammen, um ihren Arbeiten eine rechtliche Grundlage zu geben und ihnen juristische Glaubwürdigkeit zu verleihen.
Im Video Uncertain Contract (2008) sieht man einen Schauspieler, der einen Auszug juristischer Formulierungen aus einem Handelsvertrag zur Aufführung bringt. Die spezifischen Vertragsbedingungen bleiben ausgespart, woraus sich ein «unsicherer» Vertrag ergibt, dessen Bedeutung Interpretationssache bleibt. Der weisse Hintergrund des Proberaums erinnert sowohl an den White Cube des Ausstellungsraums als auch an das Erscheinungsbild juristischer Dokumente, während die gewundenen Handlungen des Schauspielers auf die performative Seite des Rechtswesens verweisen.
In ihrer 2008 entstandenen Arbeit Counter Offer setzt Young unter der Überschrift «Offer» («Angebot») den Satz «I offer you liberty» («Ich biete Ihnen Freiheit an»). Dieses Angebot wird sogleich durch folgende Zusätze genauer qualifiziert: «This offer will be automatically withdrawn on the making of a counter offer» («Dieses Angebot wird in dem Moment automatisch nichtig, wenn ein Gegenangebot erfolgt»), und «Any counter offer is hereby rejected» («Hierdurch wird jegliches Gegenangebot verworfen»). Auf einem Begleitbogen steht unter der Überschrift «Counter Offer» («Gegenangebot») schlicht zu lesen: «I offer you justice» («Ich biete Ihnen Gerechtigkeit an»). Das Spannungspotenzial zwischen diesen beiden Idealen wird durch den Prozess sprachlicher Negation betont und kommt im Akt des Lesens zur vollen Entfaltung.
We the People (after Pierre Cavellat) (2013) ist eine neue grossformatige Fotoarbeit. Sie zeigt eine Richterrobe mitsamt Perücke in einem Garten an einer Wäscheleine hängend. Die Fotografie bezieht sich auf den französischen Richter und Amateurkünstler Pierre Cavellat, der im Gerichtssaal während Verhandlungen verstohlen seiner künstlerischen Arbeit nachging und Gerichtsszenen zeichnete, und auf einen Schnappschuss, den Cavellat aufnahm, als er in den Ruhestand trat. Young setzt die offizielle Rolle des Richters einem Vergleich mit der verletzbaren Privatsphäre des Körpers aus, wohingegen die
Präsentationsform der Arbeitskleidung auf das Moment der Unterordnung und Dienstbarkeit anspielt.
In Obsidian Contract (2010) ist ein rückwärts geschriebener Rechtstext zu sehen, der von einem schwarzen Spiegel reflektiert wird – einem Objekt, das in der Zauberei und im Okkultismus in vielen Kulturen eine lange Tradition hat. In der Romantik nutzten Landschaftsmaler dieses Mittel um ihrem Motiv eine dramatische Stimmung abzugewinnen. Der Text bietet die im Spiegel sichtbare Ausstellungsfläche als ein neues «Land» in öffentlicher Hand an, in dem bestimmte Aktivitäten, die zu unterschiedlichen Zeiten als illegal betrachtet wurden, erlaubt sind – so die Weidehaltung von Tieren oder
sexuelle Handlungen.
Bei Report of the Legal Subcommittee (2010) handelt es sich um einen Druck, der eine Sternenkarte zeigt sowie eine gefundene Transkription einer kürzlichen Sitzung der Vereinten Nationen, in der verschiedene internationale Delegationen ihre Frustration über die bereits vierzig Jahre andauernde Bemühung, eine rechtliche Definition des Weltraums zu erarbeiten, zum Ausdruck bringen. Verlautbarung scheint ein grosses poetisches und gleichzeitig komisches Potenzial zu liegen: die menschlichen Versuche, den Weltraum zu bürokratisieren und zu steuern, sowie die anscheinende Entmutigung gegenüber dem unfassbaren Massstab und den Mysterien dieser unendlichen Weiten. Sowohl hier als auch in ihrer gesamten Arbeit setzte sich Young kritisch mit Institutionen auseinander, wobei sie den künstlerischen Kontext verwendet, um das Augenmerk auf die Schnittmengen von Geschäfts- und Rechtswelt zu lenken. Dabei stützt sich die Künstlerin auf konzeptionelle Präzedenzfälle, um die Aufmerksamkeit auf das breite Spektrum tief greifender Einschränkungen und Regeln zu ziehen, die Bestandteil einer globalisierten Wirtschaft sind.
Carey Young hatte zahlreiche Einzelausstellungen, u. a. in Le Quartier – Centre d’art contemporain de Quimper (2013), in der Paula Cooper Gallery, New York (2010), im Contemporary Art Museum in St. Louis sowie in The Power Plant in Toronto (beide 2009), und nahm 2010 an der Taipeh-Biennale, 2007 an der Moskau-Biennale, 2005 an der Biennale in Sharjah und 2003 an der Venedig-Biennale teil. Darüber hinaus waren Werke von ihr im San Francisco Museum of Modern Art (2012), im New Museum, New York (2011), im MoMA/PS1, New York (2010), sowie in der Tate Britain, London (2009/10) und der Tate Liverpool (2013) zu sehen.
Migros Museum für Gegenwartskunst
Limmatstrasse 270
CH-8005 Zürich
http://www.migrosmuseum.ch/
PM
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