Gap Year: eine Auszeit von Arbeit und Verantwortung, eine Pause, bevor es wieder losgeht – oder ein bisschen Zeit, die einem in den Schoß fällt, wenn die Gesellschaft unerwartet stehen bleibt.
Das Tempelhofer Feld ist ein weitläufiger und relativ unkontrollierter Raum, der von historischen Brüchen geprägt ist. Es diente bereits im 19. Jh. als Naherholungsgebiet, gleichzeitig aber auch als Parade- und Militärgelände, es war ein Flughafen, Massenversammlungsort während der NS-Zeit, beherbergte ein KZ sowie den ersten Fußballtrainingsplatz in Deutschland.
Loretta Fahrenholz’ Fotoserie Gap Years portraitiert Freizeitaktivitäten während der Pandemie, als das Feld spontan zum Café, Fitnessstudio, Bar, Club und Pick-up-Spot umfunktioniert wurde. Aufgenommen mittels stroboskopartiger Zeitrafferaufnahmen, die Bewegungen wie in gefrorenem Gelee festhalten, zeigen die Arbeiten der Serie Leute beim Kampfsport, beim Tischtennisspielen, Rollschuhlaufen oder bei improvisierten Raves, beim Lenken ferngesteuerter Autos, bei Open-Air-Bondage und beim Picknick. Auch eine unscharfe Nahaufnahme von Tahini, das auf einen der unbeliebten E-Scooter gegossen wird, ist darunter (ja, wir sind hier unter reizbaren Berlinern).
Die Aktualität dieser Aktivitäten kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass dem Freizeitmotiv ein Belle Époque’sches Moment der Idylle innewohnt – das, was Fahrenholz als „Kitsch“ bezeichnet. Machen wir uns keine Illusionen über Freizeitaktivitäten. Als wohldosierte Unterbrechungen des Arbeitsregimes können sie das beste Mittel sein, um aus dem Alltag auszubrechen. In einem urbanen Kontext ist die Zurschaustellung von solch beiläufig virtuosen street skills zudem bereits in eine vielschichtige visuelle Ökonomie eingeschrieben: Fahrenholz‘ Fotos zeichnen dabei sowohl den für Instagram typischen Stil des SocialMedia-Selbstkonsums als auch die Heroik der Sportfotografie nach.
Der soziale Kollaps während der Pandemie ermöglichte dennoch auch andere Rhythmen, eine gesellschaftliche Neuordnung auf der Mikroebene, wodurch Räume entstehen konnten, die sowohl Dystopie als auch Utopie in sich vereinen.
Der Film Happy Birthday (2022) ahmt mit seinem einzelnen Protagonisten, der ziellos über das Tempelhofer Feld wandert, die Perspektive eines Ego-Shooter-Videospiels nach. In kleinen Fenstern erscheinen Schnipsel von mit dem Handy aufgenommenen Geburtstagsgrüßen. Im weiteren Verlauf des Films verdunkelt sich die einsame soziale Choreografie, eine Nicht-Feier mit Nachrichten aus der Ferne von Freunden und Familie, die eigentlich anwesend sein sollten. Die ausdruckslose Miene des Geburtstagskindes und die Abwesenheit einer Handlung erzeugen das Gefühl von emotionalem Druck und Erwartungen, während die Luft um ihn herum von Liedern, Ermutigungen oder Beschimpfungen, geteilten Erinnerungen, zweideutigen Botschaften und existenziellen Gedankenschleifen perforiert wird.
Was ist geblieben, wo stehen wir jetzt? Wohin gehen wir von hier aus? – Diese Fragen steigen aus der Dunkelheit empor, die die Figuren in den beiden Werken von Fahrenholz umgibt. Für Henri Lefebvre ist der „Rhythmusanalytiker“ jemand, der Rhythmen als Struktur für die Erfahrung von Raum und Zeit untersucht – jemand, der auf „alle möglichen bereits bekannten Praktiken“ hört, aber vor allem „auf seinen Körper; er lernt den Rhythmus von ihm, um folglich die äußeren Rhythmen zu schätzen. Sein Körper dient ihm als Metronom.“ Was würde Lefebvres Rhythmusanalytiker aus der pandemischen Zeit machen, einer Zeit, die aus dem Gleichgewicht geraten ist? Lefebvres Vorstellung vom Körper als Metronom bekommt eine andere Bedeutung, wenn man sie mit den gleichförmigen Bewegungen des Happy-Birthday-Protagonisten und den fotografischen Experimenten von Gjon Mili aus der Mitte des 20. Jahrhunderts vergleicht, die Fahrenholz zu ihrer Gap Years-Serie inspirierten. Die neue Stroboskoptechnik ermöglichte es Mili, die Sequenzen der menschlichen Bewegungen in einem einzigen fotografischen Bild festzuhalten: Picasso, der mit Licht eine
Zeichnung anfertigt, der Schritt eines Balletttänzers über die Bühne. Bei Mili handelt es sich demnach um eine Art Porträt, bei dem die Psychologie zugunsten der Geschwindigkeit reduziert oder sogar ausgelöscht wird.
In der Gegenkultur der 1960er Jahre wurde das staccatoartige Aufblitzen des Stroboskops genutzt, um die Zeit zu zerhacken und den Körper aufzulösen. Tom Wolfe beschreibt die Tanzfläche eines „Acid-Tests“ der 1960er Jahre:
Ekstatische Tänzer – ihre Hände flogen von den Armen, erstarrten in der Luft – eine schimmernde Ellipse von Zähnen hier, ein Paar gepufferte, betonte Wangenknochen dort – alles flimmerte und zerfiel in Bilder wie in einem alten Flackerfilm – ein Mann in Scheiben! – die ganze Geschichte angepinnt auf eine Schmetterlingstafel; die Erfahrung natürlich.
Die psychedelische Sensibilität für die nicht-menschliche Seite der Technologie inspirierte den Filmemacher Jonas Mekas zu der Aussage, dass „da es in [dem Stroboskop] nichts außer weißem Licht gibt, es den Punkt des Todes oder des Nichts darstellt.“
Aber das Stroboskop ist nicht nur ein visuelles Schrapnell, sondern hat auch eine theoretische Komponente, eine kristalline, urfilmische Logik: „Man könnte sogar sagen, dass es das Licht selbst dramatisiert.“ Auf dem schmalen Grat zwischen Emanzipation und Kontrolle, Stimulus und Trauma fasst das Stroboskop den modernen Ansturm auf das Nervensystem von konstant wechselnden Signalen zusammen. In den 1950er Jahren wurden Flicker-Technologien für die elektroenzephalografische Forschung eingesetzt, um zu dokumentieren, dass Veränderungen der elektrischen Rhythmen des Gehirns einen diagnostischen Wert haben. Im Klick-Regime des Nerven-Gehirns unseres digitalen Zeitalters haben solche Stimuli auch einen hohen Tauschwert.
Wie Gilles Deleuze am Beispiel von Hélène Cixous beschreibt, kann „stroboskopisches Schreiben wahnwitzige Geschwindigkeiten“ auslösen, „bei denen sich verschiedene Themen miteinander verbinden und die Wörter je nach Lesetempo und Assoziationsweise verschiedene Figuren bilden.“ So gelingt es Cixous, sich aus patriarchalen Regimen herauszuschreiben. Bei Fahrenholz wird das kalte Lichte des Stroboskops gleichermaßen zur Poetik, eine passende Ästhetik für unsere traumlose Zeit. In Abkehr von der Beschleunigung und Cixous‘ Forderung nach „mehr Körper“ präsentiert Fahrenholz stattdessen Überlegungen zur Auflösung der Normalität und zu Zäsuren in der sozialen Raum-Zeit. Tradierte Lebensrhythmen geraten ins Wanken, wenn uns in den affektiven Zwischenräumen von Körpern und Technologien eine neue Kost der (Un-)Verkörperung, der Trennung und des Zusammenseins verschrieben wird. Vielleicht können wir hier, in einer großen räumlichen und zeitlichen Leerstelle wie dem Tempelhofer Feld während der Pandemie, alles, was geschieht – oder nicht geschieht – als Ereignis anerkennen und der Zukunft anvertrauen, damit sie neue Wege beschreiten kann.
Lars Bang Larsen (übersetzt von Kathrin Heinrich)
Kölnischer Kunstverein
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