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Spezial: Paul McCarthy: Caribbean Pirates



Der Pirat, wie man ihn aus Kindertagen kennt, ist tot. Kein romantisches Seeräuberleben mehr, stattdessen haben entstellte, gnomähnliche Wesen das Ruder übernommen. Alptraumhaft, was man da zu sehen bekommt: Beinamputationen, Vergewaltigung, blutige Orgien, Kannibalismus und Kastration. Wer die Augen schließt, den verfolgen die Schreie und das Geräusch der Säbel, die sich durch menschliches Fleisch schneiden.
Paul McCarthy s Caribbean Pirates sind eine Zumutung – ihrer Faszination kann man sich dennoch schwer entziehen.

Eine gute Autostunde von Wien entfernt liegt, im burgenländischen Niemansland, der Friedrichshof. Von 1971 bis 1991 verwirklichte Otto Muehl hier mit über hundert Mitgliedern seinen Traum einer autonomen Kommune. Muehl, geboren 1925, gilt neben Hermann Nitsch und Günther Brus als Mitbegründer und zentrale Figur des Wiener Aktionismus.
Ende der 1960er Jahre schien die Zeit überfällig, Österreich von seinem konservativen Weltbild zu befreien und es mit dessen historischer Schuld am zweiten Weltkrieg zu konfrontieren. Angesichts der Radikalität und Drastik des Wiener Aktionismus, der auch als „Direkte Kunst“ bezeichnet wird, ist es nicht verwunderlich, dass dessen Anhänger ständig in Konflikt mit Gesetz und Gesellschaft gerieten und insbesondere ihre Aktionen weit über die Kunstwelt hinaus für Aufregung sorgten. Ob Nitschs Orgien-Mysterien-Theater, Schwarzkoglers fotografisch inszenierte Selbstverletzungs- oder Muehls Materialaktionen – indem sie den Rezipienten an die Grenzen des physisch und psychisch Erträglichen führten, zwangen die Arbeiten der Aktionisten zu einer radikalen Neudefinition des herkömmlichen Kunstbegriffes.

Nach der Auflösung der Kommune Friedrichshof1991 gelang es dieser, ihre rund zehn Jahre zuvor initiierte Sammlung zumindest in Teilen vor der Auflösung zu retten. Heute besitzt die gleichnamige Sammlung rund 100 Exponate, vorwiegend aus der Anfangszeit des Wiener Aktionismus, welche auf einer erst kürzlich renovierten Ausstellungsfläche, die nach und nach auf 400 qm erweitert werden soll, in wechselnden Präsentationen gezeigt werden. Darüber hinaus werden zweimal pro Jahr Positionen zeitgenössischer Künstler in Dialog mit den Werken der eigenen Sammlung treten.

Eine solche zeitgenössische Position bekleidet nun der US-amerikanische Ausnahmekünstler Paul McCarthy. Bei Betrachtung sowohl seiner frühen, Muehls Materialaktionen ähnlichen Performances, als auch den neueren Arbeiten, die hauptsächlich im Bereich Video anzusiedeln sind, drängt sich eine Gegenüberstellung mit den Arbeiten der Wiener Aktionisten geradezu auf. Während diese jedoch stets mit authentischen Materialien – Blut, Sperma, Urin – arbeiteten, nimmt McCarthy, indem er beispielsweise auf Ketchup zurückgreift, Bezug auf Hollywood, Comics und Disneyworld. Trotz dieser ironischen Übernahme alltäglicher medialer Klischees und der Demaskierung der eigenen Produktionsästhetik, verfehlen seine Ekelorgien ihre Wirkung nicht.
Gerade die durch übergroße Nasen und Fatsuits entstellten Piraten verweisen über den bloßen Schockeffekt und die Lust am Sadismus hinaus auf das Gewaltpotential in unserer nur scheinbar zivilisierten Gesellschaft. Speziell die gegenwärtige Lage in den USA mit ihrer Doppelmoral und der weltweiten Involvierung in Kriege und Konflikte ist McCarthy Grund genug, seine Protagonisten all das offen ausagieren zu lassen, was sonst unter dem Deckmantel von Konventionen verborgen bleibt.

Es steht außer Frage, dass bei einer Doppelreflexion von Wiener Aktionismus und dem Werk Paul McCarthys der Zeitfaktor zwangsweise mitgedacht werden muss. Das L.A. der Nuller Jahre ist nicht das Wien der1960er. Die ungleich größere Drastik McCarthys, gegen die insbesondere die frühen malerischen und skulpturalen Arbeiten der Aktionisten manchmal beinahe brav wirken, mag mit der mediale Dauerpräsenz von Gewalt zu begründen sein,
Beiden Positionen gemein ist dagegen der Anspruch, die Gesellschaft zu verändern oder zumindest eine zwingende Konfrontation mit deren Abgründen herzustellen.

Gut fünfzig Jahre später pflegt Österreich sein nationales Erbe mit Stolz. In jeder größeren Sammlung finden sich Werke des Wiener Aktionismus und wem die Fahrt ins Burgenland zu beschwerlich ist, dem sei die aktuelle Ausstellung Direct Art – Wiener Aktionismus im internationalen Kontext im MUMOK ans Herz gelegt.
Was hätten die Aktionisten wohl zu dieser nachträglichen Sanktionierung gesagt?
An den entsetzten Gesichtern der Besucher beim Anblick der Carribean Pirates hätten sie ganz bestimmt ihre helle Freude gehabt.

Abbildung: Caribbean Pirates, 2005;
Paul McCarthy, collaboration with Damon McCarthy
Paul McCarthy, Caribbean Pirates

Ausstellungsdauer: noch bis 27.3.2011

Sammlung Friedrichshof
Römerstraße 3
2424 Zurndorf
Besichtigung derzeit nur nach telefonischer Vereinbarung unter:
+43(0)6767497682

sammlungfriedrichshof.at

Direct Art – Wiener Aktionismus im internationalen Kontext

MUMOK
Museums Quartier Wien
Museumsplatz 1
1070 Wien
Täglich 10.00-18.00 Uhr, Donnerstag 10.00-21.00 Uhr

mumok.at

Eva Biringer





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