Seit mehr als fünf Jahrzehnten nimmt Adrian Piper sowohl in der zeitgenössischen Kunst als auch in der akademischen Welt einen besonderen Platz als Künstlerin und analytische Philosophin ein. Wie kaum eine andere Figur unserer Zeit hat sie die Felder der Konzeptkunst und des Minimalismus als Instrumente der Selbstreflexion und Gesellschaftsanalyse erweitert und damit nachfolgende Generationen maßgeblich beeinflusst. Im Verlauf ihres beruflichen Schaffens hat Piper ein breites Spektrum an Medien eingesetzt — darunter Collage, Zeichnung, Installation, Performance, Fotografie, Audio und Video. Anstatt sich auf vorgefertigte Interpretationen zu stützen, schafft ihre künstlerische Praxis Räume, in denen Betrachter*innen mit ihren eigenen Erwartungen und Vorurteilen konfrontiert werden; und stößt so soziale, persönliche und kollektive Transformationen an.
Für ihre Ausstellung Who, Me? im Portikus hat die Künstlerin zwei neue ortsspezifische Werke konzipiert, die ihre langjährige Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen für das Selbstbewusstsein aufgreifen. Der Hauptraum der Ausstellung wird durch die Arbeit I’m the Tree (2024) in eine skulpturale Installation verwandelt. Ausgehend von der Architektur des Gebäudes, die normalerweise eine unmittelbare Begegnung mit den ausgestellten Kunstwerken ermöglicht, hat Piper den Zugang zum Ausstellungsraum absichtlich verändert, indem sie eine Wand einziehen ließ, die sowohl den Durchgang als auch die Sicht versperrt. Erst beim Hinaufsteigen der Treppe zum Zwischengeschoss erblicken Besucher*innen einen abgestorbenen Baum, der von vier an sämtlichen Ecken des Raumes verankerten Stahlseilen gehalten wird, und über einem vollständig mit Spiegeln ausgelegten Boden schwebt. Ein Steg, der das sich auf vier Meter Höhe befindende Zwischengeschoss an den Rändern des Raumes entlang erweitert (einschließlich einer kleinen Auf- und Abstiegstreppe an einer Ecke, zum Überbrücken einer unbeweglichen architektonische Barriere), ermöglicht es den Betrachter*innen, sich um die Installation herum zu bewegen und so das Wechselspiel zwischen der Spiegelung des Baumstamms, der Architektur des Ausstellungsraums und sich selbst zu beobachten. Anstatt die vielschichtigen Bedeutungen des Werks zu definieren, dessen vollständiges Verständnis Piper zufolge manchmal Jahre dauert, ist es—wie so oft—der Titel, der auf das zentrale Anliegen verweist: die Frage nach dem Selbst.
Dies wird in I’m the Screen (2024) noch stärker verdeutlicht, die im unteren Geschoss präsentiert ist, dessen gesamte Wandflächen mit Spiegelpaneelen verkleidet wurden. Die Installation besteht aus vier Reihen von jeweils fünf Stühlen mit Rückenlehne, die auf eine Leinwand, auf die ein leeres weißes Lichtquadrat projiziert wird, und auf ein mit einer Leselampe bestücktes Rednerpult gerichtet sind. Da kein*e Redner*in auf dem Podium steht und keine Folien zu sehen sind, sind wir mit der Überlagerung unseres Spiegelbildes, den im Raum arrangierten Elementen und der Reflexion des Mains konfrontiert, dessen fließendes Wasser durch die Fenster hereinzuströmen scheint. Ähnlich dem absichtlich unaufgelösten Spannungszustand in I’m the Tree lädt Piper auch hier die Betrachter*innen dazu ein, über ihre eigene Position innerhalb der komplexen Schichtungen nachzudenken, die die Erfahrungen des eigenen Selbst, der anderen und des Hier und Jetzt formen.
Aufbauend auf früheren Arbeiten der Künstlerin, in denen sie sich an die Betrachter*innen wendet oder sie direkt einbezieht, werden auch in dieser Ausstellung die eigenen Reaktionen zum integralen Bestandteil der Erfahrung im Portikus. Nach der Kritik der reinen Vernunft (1781) des Philosophen Immanuel Kant—einem Werk, das sowohl in Pipers künstlerischer als auch wissenschaftlicher Praxis eine zentrale Bedeutung einnimmt—ist das Selbst eine transzendentale Bedingung, die wir nicht wie ein Objekt beobachten oder kennen können. Stattdessen fungiert es als Voraussetzung für die Erfahrung an sich, als zusammenführende Kraft, die es ermöglicht, verschiedene Repräsentationen zu einem subjektiven Begriff der Realität zu verbinden. In Who, Me? offenbaren die verspiegelten Räume kein „objekthaftes“ Selbst; vielmehr regen die Installationen zu einer tieferen Reflexion über das Verhältnis zwischen Selbsterkenntnis und äußeren Bedingungen an. Der Titel der Ausstellung ist eine Anspielung auf den bekannten Ausdruck [„…wer, ich?“], der oft verwendet wird, um Unschuld zu heucheln oder Anschuldigungen abzuwehren. Entsprechend kann er als Aufforderung an die Betrachter*innen verstanden werden, ihre eigene Rolle und Verantwortung im Hinblick auf Themen zu reflektieren, von denen sie sich vielleicht zu distanzieren versuchen.
Adrian Piper (*1948 in New York City, USA) ist eine Künstlerin und Philosophin, die seit 2005 in Berlin lebt. Piper schloss 1969 ihr Studium an der School of Visual Arts in New York ab. Ihr Philosophiestudium absolvierte sie am City College of New York und an der Harvard University, wo sie 1977 einen M.A. und 1981 unter der Leitung von John Rawls einen Ph.D. erwarb. Piper lehrte Philosophie an den Universitäten von Georgetown, Harvard, Michigan, Stanford und der UC San Diego. Zu ihren jüngsten Einzelausstellungen in Museen zählen: im PAC Padiglione d‘Arte Contemporanea, Mailand (2024), im MoMA, New York (2018), im Hammer Museum, Los Angeles (2018), im Hamburger Bahnhof, Berlin (2017), in der CPH Kunsthal, Kopenhagen (2006), und im MACBA Barcelona (2004). Piper hat für ihr Werk zahlreiche Preise erhalten, darunter den Goldenen Löwen der Venedig Biennale (2015), den Käthe-Kollwitz-Preis der Akademie der Künste Berlin (2018) und den Goslarer Kaiserring (2021).
Kuratiert von Liberty Adrien & Carina Bukuts
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