Die Wunderkammer verkörpert ein enzyklopädisches Modell der Welterfassung und
-erklärung, sie ist ein Ort der Sammlung und Systematisierung, der Forschung sowie der unwillkürlichen und assoziativen Verknüpfung von Dingen heterogener Herkunft. Mit ihren Naturalia, Artificialia, Scientifica, Exotica und Mirabilia und, als spezielle Kategorie der Kunst- und Naturalienkammer in Halle, auch der Realia und den daran angebundenen Sammlungsgeschichten war sie nicht nur der Ausgangspunkt für die Herausbildung der Spezialmuseen, sondern wird gerade in den letzten Jahren als Muster für aktuelle Ausstellungskonzepte aktualisiert.
Die Kunst- und Naturalienkammer der Franckeschen Stiftungen zeugt – als einzigartige Wunderkammer jenseits höfischer Einbindung – von der weltweiten Missionstätigkeit, der globalen Vernetzung und dem Erziehungsanspruch der Pietisten. Mithilfe der spezifischen inszenatorischen Gestaltung durch Gottfried August Gründler wird nicht nur, wie in jeder Wunderkammer, das Universum als zusammenhängender, gottgewollter Organismus vor-gestellt. Darüber hinaus wird ein „Theater des Wissens“ aufgeführt, das die pietistische Zweckdienlichkeit zwar beinhaltet, doch zugleich – im Sinne einer Erstaunen und Bewunderung hervorrufenden Versammlung exklusiver Exponate – die Vision einer globalen Wissenswelt eröffnet. Die Lust an der spielerischen Verknüpfung von zweckgebundenen und „nutzlosen“ Dingen wird hier angeregt.
Die Ausstellung will die Grundprinzipien der Wunderkammer fortschreiben. Sie wird dabei
das „große“, universale und enzyklopädische Modell mit dem „Kleinen“, den Alltagsfundstücken, den individuellen Geschichten und den verflochtenen Wegen der künstlerischen Recherche verbinden. Die Ausstellung wird im assoziativen Nebeneinander die Ikonographie des Materials und die Sprache der Dinge zum Klingen bringen. Sie wird das „wilde Denken“ der Findenden aufgreifen, banale Stücke in neuen Konstellationen sowie wundersame und erstaunliche Gebilde zeigen, schließlich Objekte und Filme, die Geschichten erzählen. Erbauliches gesellt sich zu Kuriosem, Lehrreiches mündet in Visionärem. Dabei werden Prozesse und Objekte kultureller Hybridisierung, Kolonialisierung und die diese mit bedingenden Reiserouten sichtbar.
Im Rahmen aktueller kunst- und kulturwissenschaftlicher Diskurse zur Material- und Dinggeschichte sowie zum Komplex Artistic Research kann die Ausstellung einen pointierten Kommentar liefern. Bezugspunkt für das Projekt ist zum einen die barocke Wunderkammer der Franckeschen Stiftungen, zum anderen, vom konkreten Sammlungskonvolut abgelöst, der Denkraum einer multimedial ausgerichteten und global vernetzten künstlerischen Produktion. Denn die für die Wunderkammer kennzeichnende ars combinatoria ließe sich heute transdisziplinären Vernetzung.
Junge Künstler_innen und Gestalter_innen, Absolvent_innen der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle aus verschiedenen Sparten der Kunst und des Design werden ihre Werke im Tandem mit ausländischen Künstler_innen und Gestalter_innen, die sie inspiriert haben oder mit denen sie intensiv zusammenarbeiten, präsentieren. Es werden neue Arbeiten für die Ausstellung entstehen. Zudem sollen in die Ausstellung einige historische Referenz-Objekte aus den Sammlungen der Franckeschen Stiftungen integriert werden. Umgekehrt sollen vereinzelt Exponate der Künstler_innen und Gestalter_innen einen dezenten Platz in der Wunderkammer finden und deren Sammlungsschwerpunkte und Kategorien kommentieren und erweitern. Die Kategorien der Naturalia, Artificialia, Scientifica, Exotica und Memorabilia sowie der Realia bilden dabei auch für die Präsentation der aktuellen Werke in der Ausstellungsetage einen lockeren Bezugsrahmen. Die Ausstellung möchte einen assoziativen Raum voller Verweisgeflechte – vergleichbar einer Wunderkammer – vorstellen.
Aus Halle sollen, im Sinne der universalen Ausrichtung der Wunderkammersammlungen, Satelliten in Form von Gesprächsrunden, Tagungen und Kabinettausstellungen ausschwärmen, die in Sinop, Paris und andernorts Station machen.
Künstlerliste
Claudio Adami (ITA)
Pedro Flores Balbuena, gen. Ogwa (PRY)
Anne Baumann (DEU)
Sophie Baumgärtner (DEU)
Charlotta Bellander (SWE)
Berlin Rhizom (CHN/TWN/DEU)
Alighiero Boetti (ITA)
Mario Brondo (MEX)
cominghomefunktion (DEU/CYP)
Pia Fischer (DEU)
Wilhelm Frederking (DEU)
Ulrike Grossarth (DEU)
Murat Haschu (RUS)
Kristina Heinrichs (DEU)
Susanne Hopmann/Georg Lisek (DEU)
Thomas Huber (CH)
Burçak Konukman (TUR)
Nora Läkamp (DEU)
David Lynch (USA)
Anna Maria Maiolino (BRA)
Nina Viktoria Naußed (DEU)
Ginan Seidl (DEU)
Sabina Shikhlinskaya (AZE)
Esther Suarez Ruiz (COL)
Branislava Susnik (PRY)
Lars von Trier (DNK)
Silvia Weidenbach (DEU/GBR)
Xu Na (CHN)
Yang Yanyu (CHN)
ASSOZIATIONSRAUM WUNDERKAMMER
Zeitgenössische Künste zur Kunst- und Naturalienkammer der Franckeschen Stiftungen
Ein Ausstellungsprojekt mit künstlerischen und gestalterischen Positionen aus Aserbaidschan, Brasilien, China, Dänemark, Deutschland, England, Italien, Kolumbien, Mexiko, Paraguay, Russland, Schweden, der Schweiz, Spanien, Taiwan, der Türkei, den USA und Zypern.
Projektdurchführende Institutionen:
Franckesche Stiftungen, Halle,
in Kooperation mit der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle
Kuratorin:
Nike Bätzner, Berlin/Halle
Ort der Ausstellung:
Kunst- und Naturalienkammer und Ausstellungsetage der Franckeschen Stiftungen im Historischen Waisenhaus, Franckeplatz 1, Halle
Laufzeit:
Ausstellung in Halle: 24. April bis 16. August 2015
Weitere Kooperationspartner:
Werkleitz Gesellschaft Halle, Sommer 2015
Deutsches Forum für Kunstgeschichte, Centre Allemand d’Histoire de l’Art, und Studio der Gallerie Laurent Mueller, Paris, Oktober 2015
Sinopale 6, International Biennial, Sinop am Schwarzen Meer, August/September 2016
Katalog:
Zur Ausstellung erscheint eine Katalog mit Beiträgen von Nike Bätzner, Thomas Müller-Bahlke, James Delbourgo, Nadine Engel, Robert Felfe, Philine Helas, Felix Thürlemann und anderen
Vermittlungs- und Rahmenprogramm:
Die Ausstellung wird von einem umfangreichen Rahmenprogramm begleitet.
100.burg-halle.de/assoziationsraum-wunderkammer
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Kataloge/Medien zum Thema:
Wunderkammer
Max Liebermann Haus
Kommunale Galerie Berlin
Rumänisches Kulturinstitut Berlin
Verein Berliner Künstler
a.i.p. project - artists in progress