Figura Cuncta Videntis – The all-seeing eye
Hommage to Christoph Schlingensief
Ein Hotelzimmer, vier nackte Hintern und eine Frau, die der Reihe nach Schläge verteilt. Das satte Klatsch-Klatsch ist im ganzen Raum zu hören und mischt sich mit den schrägen Klängen der Performance im Wiener Gartenbaukino, die auf dem zweiten Screen abläuft.
Monumental über die Szene ragt ein Pegasus aus Stofffetzen und der Boden ist über und über bedeckt mit Konfetti.
Vor der Performance ist nach der Performance.
Die Installation ist eine Koproduktion zwischen dem britischen Skandalkollektiv Chicks on Speed und dem US-amerikanischen Künstler Douglas Gordon. Vorrangig verstehen sich die Chicks on Speed als feministische Rock-/Popband an der Schnittstelle zwischen Kunst, Politik und Sozialkritik. Pinkeln in der Öffentlichkeit und Hintern klatschen als subversive Praktiken. Dass das Ergebnis mehr ist als Provokation und Rock’n Roll Attitüde, verdankt die Arbeit dem Einfluss Gordons, der für die Chicks on Speed als Stellvertreter des kommerziell erfolgreichen Künstlers fungiert, dessen Konformität es zu unterlaufen gilt.
Das Performative hat derzeit Hochkonjunktur. Kunst heute ist im besten Fall eine Form von Interaktion zwischen Publikum und Künstler, eine Reflexion der Wechselwirkungen der gleichzeitigen Präsenz und der Bedeutung von Zeit, die Performance der Prototyp dieser Kunstauffassung. Figura Cuncta Videntis – The all-seeing eye präsentiert eine Auswahl von elf künstlerischen Positionen an der Schnittstelle zwischen Kunst, Performance, Theater und Film.
Um die Dekonstruktion von Machtfiguren, bzw. künstlerischer Vorbilder geht es auch Jonathan Meese in seiner Arbeit Jonathan Meese ist Mutter Parzifal. Im März 2005 realisierte er seine sechsstündige Vision der Wagneroper Parzifal in der Staatsoper Berlin, parallel zur im selben Haus aufgeführten Parzifal Premiere unter der Regie von Bernd Eichinger. Ganz im Sinne des wagnerischen „Gesamtkunstwerkes“ übernahm der Künstler alle Rollen und entwarf sowohl das Bühnenbild als auch Kostüme und Requisiten. Einige dieser Relikte, im Sinne der die Performance überdauernden Artefakte, ergänzen nun die Aufzeichnung des Premierenabends, die hier in voller Länge zu sehen ist. Meese rüttelt mit seiner Neuinterpretation nicht nur am Sockel des Übervaters Wagners. Auch Nietzsche, De Sade und Nabokov sollen im Zuge seiner „Total-Revolution“ wenigstens kritisch hinterfragt werden.
Herzstück der Ausstellung, eine Hommage an den kürzlich verstorbenen Überkünstler Christoph Schlingensief, ist dessen Animatograph, erstmals zu sehen beim Reykjavik Arts Festival. Kann hier überhaupt noch von einer Installation die Rede sein? Zu weitläufig, labyrinthartig sind die verschachtelten Bretterbuden, Tunnel, Drehscheiben, zu vielschichtig die Bezüge, die in typischer Schlingensief-Ästhetik Bezug nehmen auf nordische Mythen, interkontinentale Beziehungen und dem historischen Blick auf die Entstehungsbedingungen des modernen demokratischen Staates. Nahe liegender wäre erneut der Terminus des Gesamtkunstwerkes. Das Ziel der subversiven Zerstörungslust ist im Falle des Animatographen, stellvertretend für jedes demokratische System, das isländische Parlament. Folglich wird der Besucher aufgefordert, mit einer Blutspende die Integrität der isländischen Rasse zu sichern. Als Belohnung gibt es thailändisches Essen in einer Suppenküche - die Teil der Arbeit ist - stilvoll serviert in authentischen Holzschalen. Über allem schwebt die Stimme des Schöpfers: I want to destroy Parliament. You want to destroy Parliament. He wants to destroy Parliament...
Dabei wäre Schlingensief selbst ein gutes Ziel für die Dekonstruktion eines übermächtigen Künstlersubjekts. Zu Lebzeiten stießen seine politischen Arbeiten mit ihren Verweisen auf fundamentale gesellschaftliche Missstände, etwa Fremdenfeindlichkeit im Nachbarland (Bitte liebt Österreich) oder die mangelnde gesellschaftliche Integration behinderter Menschen (Freaks 3000) häufig auf Unverständnis bis hin zu Ablehnung. Bereits nach Bekanntwerden seiner Krebserkrankung wurde er in gewisser Weise sanktioniert und nach seinem Tod schließlich zum nationalen Vorzeigekünstler stilisiert. Noch ist es zu früh, sein komplexes Oeuvre kritisch zu hinterfragen, geschweige denn zu dekonstruieren. Noch lässt man sich einfach überwältigen von diesem seltsamen, fremdartigen, rätselhaften Animatographen.
Performative Ästhetik im eigentlichen Sinn gibt es dann am Ende der Vernissage in Form eines Live Auftritts der Chicks on Speed. Auch ohne den theoretischen Background von leiblicher Ko-Präsenz, Feedbackschleife etc. spürt man den Unterschied zu einer digitalen Aufzeichnung. Das hier ist echt, gegenwärtig und unwiederholbar. Und wenn die Band auf der Bühne dann stilvoll ineinander fällt, dann flirrt die Luft.
Nach der Performance ist vor der Performance.
Künstlerliste: Christoph Schlingensief, Nevin Aladag, John Bock, Chicks on Speed mit Douglas Gordon, Anetta Mona Chisa und Lucia Tkácová, Japanther, Ragnar Kjartansson, Jonathan Meese, Dan Graham, Tony Oursler und Laurent P. Berger featuring Japanther und The Huber Marionettes, Gregor Schneider, Palli Banine und David Örn Halldórsson
Abbildung:
- Chicks on Speed and Japanther
Live performance at the opening of the exhibition Figura cuncta videntis, T-B A21
Photo: Michael Strasser / T-B A21 2010
- Christoph Schlingensief
Animatograph – Iceland-Edition. (House of Parliament / House of Obsession) Destroy Thingvellir, 2005
Installation view: Figura cuncta videntis, T-B A21
Photo: Michael Strasser / T-B A21 2010
ÖFFNUNGSZEITEN: Dienstag bis Sonntag, 12.00 – 18.00 Uhr
Figura Cuncta Videntis – The all-seeing eye
Hommage to Christoph Schlingensief
Ausstellung vom 16. November 2010 bis 16. April 2011
Thyssen-Bornemisza Art Contemporary
Himmelpfortgasse 13
1010 Wien
Di-So 12.00-18.00 Uhr
TBA21.org
Eva Biringer
Kataloge/Medien zum Thema:
Christoph Schlingensief
Rumänisches Kulturinstitut Berlin
Freundeskreis Willy-Brandt-Haus e.V.
Alfred Ehrhardt Stiftung
Haus am Lützowplatz
Galerie Parterre