Splitternackt steht sie da, Lukas Cranachs Venus. Der in die Ferne gerichtete Blick wirkt frivol, die zarten Mädchenhände halten einen durchsichtigen Schleier, der nichts verdeckt und ihren Körper dennoch verhüllt. Von der Kunst des Verhüllens und vom Reiz des Geheimen erzählt die Ausstellung "Schritte ins Verborgene. Kunst und das Geheimnisvolle" im Kunstmuseum Thurgau und der gleichnamige Katalog.
"Eine von Geheimnissen durchweg beherrschte Gesellschaft ist nicht entwicklungsfähig, weil ihr der notwendige Kommunikationsraum fehlt; eine Gesellschaft ohne Geheimnis ist aber ähnlich eingefroren, weil ihr der Nährboden für die Entfaltung von Möglichkeiten fehlt." Was der deutsche Philosoph Georg Simmel 1908 feststellte, hat die Kuratoren des Kunstmuseums Thurgau zu einem überraschenden, wunderlichen Ausstellungsthema angeregt, das anhand von dreizehn ausgewählten Künstlerpositionen den Blick auf die Leerstellen in der Gegenwartskunst lenkt.
Mit seinem schwarzen Cover, das nur von einem blutroten Schriftzug unterbrochen wird, dem vampirhaften Mädchen, das stark an die Protagonistin in "Der Exorzist" erinnert (in Wahrheit einer Videoarbeit von Lindsay Seers entnommen) und das ungewöhnlich kleine Format erinnert der Katalog zur Ausstellung auf den ersten Blick mehr an einen japanischen Manga als ein klassisches "Coffetablebook".
Den ersten Teil des Buches bestimmen die Textbeiträge von Dorothee Messmer, Kuratorin der Ausstellung, und Tim Kammasch, Dozent für Ästhetik und Lektüretheorie an der Universität Zürich und an der Hochschule für Architektur Bern.
Messmers Essay liest sich flüssig, ist informativ und unterhaltsam zugleich. Das weltberühmte Lächeln der Mona Lisa und deren nie wirklich geklärte Identität interessiert sie ebenso wie Jim Jarmuschs meisterhaft rätselhaften Film "The Limits of Control" und Cranachs oben erwähnte Venus. Nachdem sie Bezug genommen hat auf den Ausstellungsort, der mit der Kartause Ittingen eindeutig religiös konnotiert ist, schließt sie mit Jean Baudrillard. Dessen Theorie vom Objekt, das als das Andere das eigene Selbst spiegelt und das daraus folgende Prinzip von Verführung, das damit arbeitet, Dinge zu verstecken, anstatt sie zu zeigen, wirkt im Hinblick auf die Thematik der Ausstellung schlüssig.
Der Beitrag von Tim Kammasch mit dem poetischen Titel "An Arkadiens Gestaden" hat im Gegensatz dazu eine deutlich wissenschaftlichere Färbung. Zunächst unterscheidet er die Begriffe arcana imperii und arcana arti, wobei es sich, vereinfacht gesagt, bei ersteren um politische Geheimnisse und bei letzteren um solche artifizieller Natur handelt. Es folgen weitere sprachliche Differenzierungen und gebildete Überflüge, die sich etwas zu oft in lateinischen Redewendungen bündeln. Nachdem der Autor sich durch all die Differenzierungen von secretum und mysterium gekämpft und an allerlei Vorbildern, von Vergil über Kleist bis zu Kant abgearbeitet hat, schließt er mit einer Untersuchung von Camus’ Kurzgeschichte "Jonas ou l’artiste au travail". Alles in allem vermisst man an diesem arg theorielastigen Text die Leichtigkeit, das Spielerische.
Darüber hinweg trösten kann der zweite Teil des Buches. Hier werden alle in der Ausstellung vertretenen Künstler auf jeweils vier Seiten vorgestellt und deren Arbeit im Hinblick auf den Aspekt des Geheimnisvollen beleuchtet. Neben alten Bekannten wie Joseph Beuys (der mit seiner großartigen Arbeit Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt vertreten ist) und Sophie Calle mit ihren gleichzeitig humorvollen wie verstörenden Aufnahmen von Hotelzimmern, trifft man auch auf weniger bekannte Künstler wie Jana Gunstheimer. Nova Porta, ihre "Organisation zur Bewältigung von Risiken" zeigt mit beängstigender Relevanz die Auswüchse unserer sicherheitsfixierten Gesellschaft auf. Dem Schweizer Künstlerin Elodie Pong gelang es, 600 Menschen dazu zu bewegen, ihr ihre kleinen und großen Geheimnisse anzuvertrauen. Das Ergebnis ist ein über neunstündiges Video mit dem Titel "Secrets".
Wer mehr über die ausstellenden Künstler erfahren möchte, etwa, womit sie sich abgesehen von der Kategorie des Geheimnisvollen noch beschäftigen, wird enttäuscht. Macht aber nichts, denn dafür sind die Beiträge komprimiert und informativ und der interessierte Leser wird im Anhang auf weiterführende Literatur verwiesen.
Eine gelungene Ergänzung stellen die zusätzlichen Interviews mit Menschen verschiedenster Berufe dar, die ein Geheimnis preisgeben. So berichtet eine Frau von ihrer Ehe mit einem katholischen Priester, die sie seit Jahrzehnten geheimhalten muss oder eine Hausfau von ihrem Doppellleben als Agentin. Auch wenn kein direkter Bezug zwischen diesen Gesprächen und den Kunstwerken hergestellt werden kann – abgesehen vom Terminus Geheimnis – macht es trotzdem Spaß, das Buch um 90° zu drehen und die Zweizeiler durchzulesen.
Was also ist das Geheimnis des Geheimnisses? Was macht die nach wie vor ungebrochene Faszination für Verborgenes, Rätselhaftes, Undurchschaubares aus, auch und gerade heute, da Wissen zur frei verfügbaren Ware geworden ist?
Lösen können Katalog und Ausstellung diese Fragen nicht. Das ist aber auch nicht ihr Anspruch. Anstatt den Schleier zu heben, um nachzuschauen, was sich darunter befindet, feieren sie ihn. Denn: "So ist es eben nicht die Enthüllung, die totale Transparenz, die zählt, sondern das Opake, also das Undurchsichtige, das, was nicht gezeigt und preisgegeben wird."
Siehe Cranachs Venus.
Die Ausstellung "Schritte ins Verborgene. Kunst und das Geheimnisvolle" ist noch bis 19.12.10 im Kunstmuseum des Kantons Thurgau, Kartause Ittingen zu sehen.
Schritte ins Verborgene
Kunst und das Geheimnisvolle
Hg.: Kunstmuseum des Kantons Thurgau, Kartause Ittingen
Mit Beiträgen von Tim Kammasch und Dorothee Messmer
120 Seiten, 50 Abbildungen in Farbe
Verlag für moderne Kunst, Nürnberg 2010
ISBN: 978-3-86984-105-2
EUR 24,00
Eva Biringer
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