Seit fast 2000 Jahren ist die Kunst des Abendlandes eng mit dem Bild Christi verknüpft. Doch im Laufe der Jahrhunderte änderte sich das Christusbild im gleichen Maße, in dem sich die christliche Gesellschaft und die Bildsprache der Kunst entwickelten. So begegnet uns das Bild Christi nacheinander als fürsorglicher Hirte, als majestätischer Herrscher, als leidender Gekreuzigter und als Sinnbild für die Schönheit von Gottes Schöpfung. Auch nach den protestantischen Bilderstürmen und dem wissenschaftlich orientierten 19. Jahrhundert hat die Darstellung Christi für die Künstler nicht an Faszination verloren, und so griffen zu Beginn des 20. Jahrhunderts viele von ihnen erneut auf christliche Motive zurück. Sie entwickelten neue, individuelle Ansätze, die Christus und den Menschen im Spannungsfeld zwischen Spiritualität und moderner Massengesellschaft zeigen.
Die Ausstellung „Jesus Reloaded – Das Christusbild im 20. und 21. Jahrhundert von Chagall bis Rauschenberg. Werke aus der Sammlung Christliche Kunst Wittenberg“ richtet ihren Blick auf jene Epoche, die gemeinhin als „Die Moderne“ bezeichnet wird, also die Zeit vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts. Dabei wird deutlich, dass die Darstellung und Interpretation der Figur Christi sehr überraschende und vielfältige Formen angenommen hat und einer ganzen Reihe bedeutender Künstler zur Inspiration diente. So zeigt die Ausstellung u.a. Werke von Paul Gauguin, Odilon Redon, Oskar Kokoschka, Otto Dix, Max Beckmann, Marc Chagall, Willi Baumeister, Georg Baselitz, Joseph Beuys, Werner Tübke und Bernhard Heisig bis hin zu nordamerikanischen Künstlern wie Robert Rauschenberg und Keith Haring.
In den etwa 130 zumeist druckgrafischen Werken, die das Kunsthaus Stade vom 12. Oktober 2013 – 19. Januar 2014 in den Räumen ihres restaurierten, historischen Kaufmannshauses zeigt, offenbaren sich faszinierende Perspektiven auf die Figur Christi, wie sie sich in einem ereignisreichen und tief zerrütteten Jahrhundert darstellt. Für viele der Künstler spielten dabei die persönlichen Erfahrungen, die einschneidenden historischen Ereignisse wie die beiden Weltkriege und die Auseinandersetzung mit den neuen Formen der Kunst in der Moderne und Postmoderne eine wichtige Rolle. Doch es gibt eine Konstante, die sich über die Jahrhunderte verfolgen lässt: Stets ist die Wahl eines biblischen oder christlichen Themas auch im 20. Jahrhundert ein Zeichen für die Suche des Künstlers nach einem Sinn und einer spirituellen Heimat. Mehr denn je wurde das Bild Christi zu einer Projektionsfläche für die Hoffnungen, Sehnsüchte, aber auch Ängste und Schreckensvorstellungen der Menschen, die sich einer zerstörerischen Technologie und einer zunehmend fragmentierten Wirklichkeit ausgesetzt sehen.
In Kreuzigungsszenen, Antlitzdarstellungen und mehrteiligen Passionszyklen griffen die Künstler der Moderne das Christusmotiv mit einer erstaunlichen Häufigkeit und in frappierend unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten auf. Ähnlich wie James Ensor identifizierten sich viele Künstler mit dem Bild des Ausgestoßenen und Unverstandenen und beschäftigten sich, so etwa Emil Nolde, bereits am Vorabend des Ersten Weltkriegs intensiv mit christlicher Thematik. Besonders nach dem traumatischen Erlebnis des Krieges mit seinen verheerenden Materialschlachten erlebte die Ikonografie des Christusbildes einen immensen Aufschwung, in dem sich etwa Max Beckmann, Max Pechstein, Karl Schmidt-Rottluff oder Otto Dix biblischen Motiven zuwandten, um das Trauma der Kriegserfahrungen zu überwinden. Andere Künstler bezogen eine eindeutig politische Position, etwa George Grosz und ein halbes Jahrhundert später der DDR-Maler Bernhard Heisig, die anhand der Christusfigur den Missbrauch der Religion für politische Zwecke anklagten. Eine besondere Rolle nehmen zudem Georges Rouault, Marc Chagall und Ludwig Meidner ein, die sich über lange Jahre hinweg des Themas annahmen.
Nazi-Diktatur und der Zweite Weltkrieg hinterließen auch kulturell und geistig Trümmerlandschaften. Schuldbewusstsein und persönliche Erschütterungen verlangten nach einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit: HAP Grieshaber schuf einen Zyklus zur Versöhnung mit den polnischen Opfern der Nazis, Kurt Mühlenhaupt konnte seine Kriegserlebnisse nur durch einen Passionszyklus aufarbeiten und Joseph Beuys stellte ein allumfassendes Konzept auf, in dem die Kunst die direkte, versöhnende und verbindende Funktion im sozialen Leben übernehmen soll. Ein Anschluss an die Kunst der Vorkriegszeit schien unmöglich zu sein, und so ist das Werk vieler Künstler dieser Zeit überdies von der Suche nach einer neuen Bildsprache und nach einer neuen Sinngebung im menschlichen Dasein geprägt.
Für viele Künstler jedoch hatte die herkömmliche christliche Ikonografie ihren direkten Bezug zum christlichen Erlösungsmythos längst verloren. In einer Gesellschaft, deren Wirklichkeit zunehmend durch Bilder geprägt ist, die durch Plakatwände und Fernsehgeräte übertragen werden, löst sich das Christusmotiv von seinem biblischen Hintergrund: Es wird zu einem Zeichen, das je nach Zusammenhang unterschiedlichste Assoziationen zulässt. In den Grünewald-Übermalungen von Arnulf Rainer, den über Kopf gemalten Motiven von Georg Baselitz und selbst in den phantastischen, an den Manierismus des 16. Jahrhunderts angelehnten Szenerien von Werner Tübke wird das Christusbild eher zitiert, als dass es einen konkreten Hinweis auf religiöse Auseinandersetzung erlaubt. Die Collagen von Robert Rauschenberg müssen vom Betrachter entziffert werden, und der Street-Art geschulte Keith Haring trug seine comicartigen, aber vielschichtigen Piktogramme in die Schächte der New Yorker Subway, wo sie den Menschen jenseits des Museumsbetriebs in seinem Alltag erreichten.
Die Ausstellung „Jesus Reloaded – Das Christusbild im 20. und 21. Jahrhundert von Chagall bis Rauschenberg. Werke aus der Sammlung Christliche Kunst Wittenberg“ zeigt auf, welche Wandlungen das Christusbild vor allem auf dem Gebiet der säkularen Kunst vollzogen hat. Sie macht zudem deutlich, welchen immensen Einfluss historische Ereignisse und persönliche Befindlichkeiten des Künstlers auf die Motivbildung haben. Gleichzeitig legt sie Zeugnis davon ab, wie sehr sich auch das allgemeine Verständnis von der Figur Christi in der modernen und postmodernen Gesellschaft verändert hat.
Sämtliche Werke in der Ausstellung wurden großzügig von der Stiftung Christliche Kunst Lutherstadt Wittenberg zur Verfügung gestellt, deren einzigartiger Bestand hier erstmalig in einem solchen Umfang gezeigt wird. Zur Ausstellung erscheint ein 179-seitiger Katalog mit vielen Abbildungen und fundierten Texten, welche die ausgestellten Werke kommentieren. Die Ausstellung wird im Auftrag des Museumsvereins Stade von Dr. Andrea Fromm und Tom Beege, M.A., kuratiert.
Museum Stade
Wasser West 39
21682 Stade
museen-stade.de
PM
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Freundeskreis Willy-Brandt-Haus e.V.
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GalerieETAGE im Museum Reinickendorf