Am 23. Juni 2002 erlebte New York City eine sakrale Prozession der ganz anderen Art. Zu den schmetternden Tönen einer mexikanischen Blaskapelle begleiteten Hunderte von Menschen den temporären Umzug des Museum of Modern Art von Manhattan nach Queens. Auf den Schultern der (größtenteils lateinamerikanischen) Pilger schaukelten die Ikonen unserer Zeit: Duchamps Rad, Picassos “Demoisselles d’Avignon” und die “Stehende” von Giacometti. Der Künstler Francis Alÿs (geb. 1959 in Belgien, lebt in Mexico City) hat Reproduktionen der Kunstwerke anfertigen lassen, um diese posaunende, gänzlich antiquiert wirkende “moderne Prozession” zu realisieren. In seinen Worten sollte sie “MoMAs heiligste Ikonen in der Peripherie willkommen heißen ... denn sie bringen uns Freude, Frieden, und manchmal auch Erlösung.” Die langersehnte Ankunft der Moderne in den Randbezirken der Gesellschaft wird mit Blumen streuenden Frauen, Pauken und Trompeten gefeiert und in ihrer anachronistischen Übertreibung zugleich in einen absurden Zirkus umgekehrt.
Als Institution mit geradezu religiöser Bedeutung für die Kunstwelt, hat das MoMA nun auch Alÿs selbst in den Kreis der heiligen Ikonen aufgenommen und zeigt sein Werk noch bis zum 1. August 2011 in einer Doppelausstellung zusammen mit dem MoMA-Ableger PS1.
Der ironisch gebrochene Triumphzug der Moderne zieht sich wie ein roter Faden durch das Werk des Künstlers, der insbesondere durch seine poetischen und sozialkritischen Performances bekannt geworden ist. Gleich zu Beginn der Ausstellung zeigt das PS1 Alÿs’ titelgebende Arbeit “A Story of Deception” (“Eine Geschichte der Täuschung”), die eine endlose Kamerafahrt auf einer Wüstenstraße nachvollzieht. In der Ferne erscheint das ersehnte Versprechen von Wasser, ein Hoffnungsschimmer, der sich im gleichen Moment den Blicken wieder entzieht. Ähnlich vergebens erscheint der Versuch eines roten VW Beatles, einen steilen Berg zu erklimmen hinter dem die verheißungsvolle Grenze zu den USA verborgen liegt (“Rehearsal I”). Synchron zur Musikprobe einer mexikanischen Band fährt das Auto mit Vollgas hinauf, nur um dann (in den Probenpausen) rückwärts wieder hinunterzurollen. Die abgehackte Melodie der Musikprobe diktiert als Notation nicht nur die Bewegungen des Autos, sondern dient zugleich als Metapher des ergebnislosen Versuchs.
Ganz nach dem Motto “zwei Schritte vorwärts, drei Schritte zurück” verfangen sich Alÿs’ “Übungsstücke” in einem endlosen Loop, der einen mit der Frage zurücklässt: wozu das alles?
Francis Alÿs selbst sieht in seinen Arbeiten eine “Parodie auf das westliche Ideal des Fortschritts” und formuliert zugleich Metaphern für Mexikos ungewisses Verhältnis zur Moderne, deren Versprechungen zwar ständig erklingen, jedoch nie wirklich erreicht werden. “Sometimes making something leads to nothing” (1997) heißt auch der Titel der Performance, in der Alÿs einen Eisblock durch die Straßen Mexico City’s schleift, rollt oder kickt, bis dieser schließlich nichts mehr als eine kleine Wasserpfütze auf dem Asphalt zurücklässt. Der Produktionsprozess wird umgekehrt und am Ende der Anstrengung bleibt “nichts” übrig. Nichts - bis auf eine reine, man könnte sagen: poetische Geste.
“Poetisch” ist ein Begriff, der im Zusammenhang mit Alÿs’ Werk häufig auftaucht. Neben dem sozial-politischen Bezug zu seiner Wahlheimat Mexiko, sind seine Werke ganz klar für ein internationales Publikum geschaffen und sprechen allgemein-menschliche Themen an wie Versagen und vergebliches Bemühen. Die Poetik ist dabei meist in der formalen Eindringlichkeit und Einfachheit der Ideen verborgen, die häufig wie Spielanleitungen daherkommen. Für die Aktion “Guards” (2004-05) verteilte Alÿs Dutzende von englischen Wachen in Londons Straßen mit folgenden Vorgaben: Treffen sich zufällig zwei oder mehr Wachen, fügen sich diese zu einer gleichmäßig marschierenden Truppe zusammen. Sobald ein Quadrat von 8x8 Mann erreicht ist, steuert die Formation die nächstgelegene Brücke an, in deren Mitte sie sich dann wieder in Individuen auflöst. Mit Aktionen wie dieser kreiert Francis Alÿs Situationen, die uns an die Absurdität und Maschinenhaftigkeit des Alltags erinnern und ganz nach Guy Debords Vorbild ein Spektakel gegen die Spektakularität der Gesellschaft entwerfen. Die rot gekleideten Leibwachen mit ihren typischen Bärenfellhüten verwandeln sich in ferngesteuerte Spielfiguren, in eine menschliche Geometrie, und werden damit Teil einer poetisch-kritischen Handlung, die neben aller Formalität nichts an ironischem Witz verliert.
“Eine Geschichte der Täuschung” ist eine Geschichte über die (gescheiterte) Idee des modernen Fortschritts. Eine Idee, die uns wie eine Fata Morgana am Horizont endlos versprochen wird. Es mag absurd erscheinen, dass diese Geschichte ausgerechnet in einem Museum erzählt wird, das wie kein anderes für den Gedanken der Moderne steht. Am Ende bleibt die Frage, ob die “moderne Prozession” ein Triumph- oder ein Trauerzug ist, doch in der Schwebe.
The Museum of Modern Art
11 West 53 Street
New York, NY 10019
Öffnungszeiten: Mi-Mo: 10.30-17.30 Uhr, Fr: 10.30-20 Uhr
moma.org
MoMA PS1
22-25 Jackson Ave. at the intersection of 46th Ave.
Long Island City, NY 11101
Öffnungszeiten: Do-Mo: 12-18 Uhr
ps1.org
Verena Straub
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