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Andrée Sfeir-Semler erhält ART COLOGNE-Preis 2025

Aug 2025

Eingabedatum: 04.08.2025

Andrée Sfeir-Semler erhält ART COLOGNE-Preis 2025
Andrée Sfeir-Semler, Foto: © Farah Al Qasimi

Die Koelnmesse und der Bundesverband Deutscher Galerien und Kunsthändler geben Dr. Andrée Sfeir-Semler als diesjährige ART COLOGNE-Preisträgerin bekannt.

Andrée Sfeir-Semler hat sich als Galeristin um die interkulturelle Vermittlung zwischen der zeitgenössischen Kunst des Westens und des Nahen Ostens große Verdienste erworben. Als frühe Entdeckerin und Förderin bildender Künstler:innen aus der arabischen Welt verfügt sie über eine herausragende Expertise und genießt hohe Wertschätzung in der Kunstszene. In diesem Jahr begeht sie ihr 40-jähriges Jubiläum als Galeristin in Hamburg und das 20-jährige Jubiläum ihrer Galerie in Beirut.

Die Anfänge
Andrée Sfeir-Semler (*1953) wuchs in einer liberalen, frankophonen Beiruter Familie auf; ihr Vater arbeitete als Architekt, Bauunternehmer und Stadtplaner. Kunstinteressiert, rebellisch, politisch aktiv und für Frauenrechte auf der Straße, galt sie als Teenagerin nach eigenem Bekenntnis als „enfant terrible“. Sie studierte zunächst Fine Arts an der Amerikanischen Universität und anschließend am National TV and Film Center in Beirut, bevor sie mit einem DAAD-Stipendium 1975 nach München zog.

Die nächste Station führte an die Universität Bielefeld, wo Andrée Sfeir-Semler von dem Mitbegründer der Historischen Sozialwissenschaft, Jürgen Kocka, geprägt wurde – ebenso wie später von Pierre Bourdieu an der Pariser Sorbonne. Das Wissen der jungen Kunsthistorikerin um die Bedeutung sozialgeschichtlicher Einflüsse und die intensive Auseinandersetzung mit den Malern des Pariser Salons des späten 18. und 19. Jahrhunderts mündeten in einer fulminanten Studie, die den gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen, geografischen und kompetitiven Kontext des französischen Kunstbetriebs mit all seinen Facetten in den Blick nahm.

Kiel
Mit der Promotion in der Tasche bot sich Andrée Sfeir-Semler die Möglichkeit, weiterhin wissenschaftlich zu arbeiten. Aber "nach jahrelangen Recherchen im Staub der Archive" entschied sie im Jahr 1985 eine Galerie in Kiel zu gründen. Das Leben im äußersten Norden hatte private Gründe, denn sie lernte 1973 einen deutschen Journalisten kennen, mit dem sie bis heute verheiratet ist.

Andrée Sfeir-Semler hatte als Unternehmerin und mit der Kunstvermittlung bis dahin keinerlei praktische Erfahrung. So glich die Eröffnung einer Galerie in „the middle of nowhere einem Sprung ins kalte Wasser“. Die selbstbewusste Newcomerin schaute sich um und rief einfach an, wen sie interessant fand. So etwa Ian Hamilton Finlay (†2006), dem sie ihre erste Ausstellung widmete und der bis heute in ihrem Programm eine wichtige Rolle spielt.

Es folgten Lucebert, Robert Barry, Barbara Camilla Tucholski, Hans Haacke, Michelangelo Pistoletto und viele andere. Damit zeichnete sich ab, wo Sfeir-Semlers Interesse bis heute liegt: Es galt primär – aber nicht nur – der Konzeptkunst und Minimal Art, es gilt dem politischen Denken, das mit ästhetischen Mitteln zur Kunst selbst, zur Gesellschaft und zur eigenen Wirksamkeit Stellung bezieht.

Hamburg
Im Jahr 1998 zieht Andrée Sfeir-Semler mit ihrer Galerie nach Hamburg, wo sie weiterhin deutsche und international bekannte Künstler ausstellt, beginnend mit Wachsobjekten von Herbert Hamak, einer Schriftinstallation von Robert Barry und isometrischen Wandmalereien von Sol LeWitt.

Der „Qualitätsbarometer“ der vielsprachigen Galeristin ist hoch und der Radius ihrer Vernetzung im institutionellen Kulturbetrieb wird über die Jahre immer größer. Als schönsten Teil ihrer Arbeit beschreibt sie den Moment, wenn es gelingt, Kunstwerke in exponierten Ausstellungen, Sammlungen und Museen unterzubringen – und zwar weltweit.

Um die Jahrtausendwende entsteht aus der Begegnung mit Walid Raad eine entscheidende Neuorientierung. Der im Libanon geborene und in New York lebende Künstler mobilisiert das Selbstverständnis von Andrée Sfeir-Semler, ihre „eigene Heimat wieder zu entdecken: den arabischen Raum“.

Auslöser ist die Atlas Group, ein Archivprojekt zur Geschichte des Libanons und des Bürgerkriegs (1975-90), das Walid Raad über mehrere Jahre entwickelt hat. Es umfasst authentische Dokumente und von ihm selbst geschaffene Materialien, die historische Ereignisse künstlerisch verarbeiten. Auszüge dieses umfangreichen, aus Briefen, Collagen, Fotoalben, Notiz- und Tagebüchern bestehenden Konvoluts wurden auf zahlreichen Ausstellungen gezeigt. Die Sammlung bildet bis heute den Grundstock für die eindrücklichen Arbeiten dieses überragenden Künstlers.

Die Zusammenarbeit mit Walid Raad setzte für Andrée Sfeir-Semler das Fanal, sich auf das kulturelle Geschehen im Nahen Osten zu konzentrieren. Bevor sie ihre Mission antrat, gab es „im arabischen Raum keine Galerien, keinen Kunstbetrieb, keine Museen und keine Kunstschulen, die denen des Westens entsprachen“. Seither hat sie zahlreichen künstlerischen Positionen dieser Region zur Anerkennung verholfen. Die von ihr vertretenen Künstler:innen wie Etel Adnan, Aref el Rayess, Yto Barrada, Lawrence Abu Hamdan, Rabih Mroué, Marwan Rechmaoui, Akram Zaatari und Wael Shawky haben den zeitgenössischen Kanon der Documenta, von Biennalen und Museen erweitert: „Die Kunstwelt wurde rund“.

Die Biografien fast all ihrer Künstler:innen sind von der andauernden Gewaltgeschichte des Nahen Ostens geprägt. Auch wenn einige von ihnen seit Jahren nicht mehr in ihren Herkunftsländern leben, bildet diese Geschichte der Gewalt den Dreh- und Angelpunkt ihrer künstlerischen Arbeit ­– mal mehr, mal weniger direkt. So war es für Andrée Sfeir-Semler nur konsequent, an einem zentralen Ort des Geschehens selbst Flagge zu zeigen.

Beirut
Am 9. April 2005 eröffnet sie in einer ehemaligen Fabrik in Beirut „am Rande der Stadt zwischen Hafen, Müllbergen und Schlachthof“ eine Galerie mit 1.400 qm Ausstellungsfläche. Es ist der erste White Cube in der arabischen Welt mit internationalem Programm. Zu sehen sind Arbeiten der Atlas Group, von Elger Esser, Alfredo Jaar, Emily Jacir, Till Krause, Michelangelo Pistoletto, Hiroyuki Masuyama und Akram Zaatari. Erst zwei Monate zuvor wurde der damalige Ministerpräsident des Libanon, Rafiq al-Hariri, ermordet. Es folgten schwerste Verwerfungen, das Land verfiel abermals in Instabilität.

Doch von ihrem Projekt lässt Andrée Sfeir-Semler nicht ab – es ist nicht das erste und nicht das letzte, das unter größter Anspannung zu leisten ist. Die Galerie platzte am Tag ihrer Eröffnung aus allen Nähten – und hat bis heute mehr Besucher als das Hamburger Stammhaus. Das Bedürfnis, sich mit Kunstwerken zu beschäftigen, die „Menschenrechte und sozio-politische Krämpfe und Kämpfe thematisieren“, ist riesig. Andrée Sfeir-Semlers Galerie bietet dafür einen Raum, sie ist zu einer „Oase für den Geist außerhalb von Politik und Miliz“ geworden.

2010 richtet Andrée Sfeir-Semler die erste große Ausstellung für Etel Adnan in Beirut aus. Zwei Jahre später wird die damals schon 87-Jährige auf der dOCUMENTA 13 einem großen Publikum bekannt. Im Todesjahr der weltläufigen, aus Beirut stammenden Dichterin und Künstlerin, 2021, gibt Sfeir-Semler ein wunderbares Werkverzeichnis der Tapisserien von Etel Adnan heraus. „Die große alte Dame“ gilt der Galeristin als verehrter Fixstern, als Paradigma einer „subtilen und universell politischen Künstlern“, die, obgleich hochpoetisch, zugleich ganz real „für Frauenrechte kämpfte und offen lesbisch lebte, als das im Libanon noch verpönt war“.

Andrée Sfeir-Semler hat es sich zur Aufgabe gemacht, mit ihren Ausstellungen den Blick auf die Verwerfungen der Gegenwart zu schärfen. Wie ihre Künstler:innen, so arbeitet auch sie selbst in einem extremen Spannungsverhältnis zwischen politischem Chaos und künstlerischen Ideen, zwischen Ost und West. Dabei gelingt es der Pionierin, ihren Künstler:innen größtmögliche Aufmerksamkeit zu verschaffen und ihre Werke in „die besten Sammlungen und Museen“ zu vermitteln. Allein im vergangenen Jahr bespielten zwei Künstler:innen der Galerie Sfeir-Semler Pavillons auf der Biennale in Venedig: Mounira Al Solh (Libanon) und Wael Shawky (Ägypten). Eine weitere Handvoll – darunter der Klassiker der libanesischen Malerei, Aref El Rayess (†2005) ­– waren dort in der Hauptausstellung „Foreigners Everywhere“ vertreten.

Selbst unter widrigsten Umständen – politischen Unruhen, Krieg und Chaos, Katastrophen und Hindernissen aller Art: Andrée Sfeir-Semler lässt sich keine Grenzen setzen. Die charismatische und äußerst couragierte Galeristin gehört zu dem kleinen Kreis an Experten, die von den Medien regelmäßig zu Kommentaren über die Zustände im Nahen Osten und ihre Auswirkungen auf die Kultur eingeladen werden. Indem sie sich der Öffentlichkeit stellt, wird sie ihrer Idee von der "Galerie als Denkraum“ auch persönlich vollkommen gerecht. ...

Der ART COLOGNE-Preis
Der ART COLOGNE-Preis für Kunstvermittlung ist mit 10.000 Euro dotiert und wird jährlich von der Koelnmesse und dem Bundesverband Deutscher Galerien und Kunsthändler (BVDG) vergeben.

Die Preisverleihung wird am Freitag, den 7. November 2025 im Historischen Rathaus zu Köln stattfinden. Die Laudatio wird von Mirjam Varadinis, Kuratorin am Kunsthaus Zürich, gehalten.

Bisherige Preisträger:innen (Auswahl): Arnold Bode (1975), Ileana Sonnabend (1988), Harald Szeemann (1989), Annely Juda (1993), Rudolf Springer (1995), Otto van de Loo (1999), Frieder Burda (2002), Nicholas Serota (2004), Harald Falckenberg (2009), Michael Werner (2011), Fred Jahn (2013), Rosemarie Schwarzwälder (2014), Günter Herzog (2017), Gaby und Wilhelm Schürmann (2020), Monika Sprüth (2022), Walther König (2023) und Christian und Karen Boros (2024).

Die ART COLOGNE öffnet am Donnerstag, den 6. November 2025 mit der Preview für geladene Gäste. Darauf folgen vom 7. bis 9. November 2025 die Publikumstage.

Text: Birgit Maria Sturm, BVDG

Die Zitate stammen aus Gesprächen und folgenden Quellen:

„Was ist das für ein Leben, wenn man nichts riskiert?“ Interview Andrée Sfeir-Semler mit Petra Schellen, taz, 19. Dezember 2010

„Weil es mir um Kunst geht.“ Interview Andrée Sfeir-Semler mit Karl Friedrich Schröer, Eiskellerberg.tv (Februar 2025)

www.koelnmesse.de

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