"You Can´t Put your Arms around a Memory so don´t try" hatte Johnny Thunders einst gesungen - gegenteiliges versuchen die Künstler in der Ausstellung >Spurensuche. Vergessen und Erinnern in der Gegenwartskunst<. Dieser Meinung ist zumindest Holger Broeker, einer der Kuratoren des Kunstmuseums Wolfsburg, der anhand von sieben ausgesuchten künstlerischen Positionen die "Bedeutung von Erinnerung im Zeitalter digitaler Datenspeicher und beschleunigter Medienkommunikationsprozesse" untersuchen möchte.
Ausgangspunkt für die Ausstellung war die Arbeit >Menschlich< (1994) von Christian Boltanski. Als weitere "Spurensucher" sind Douglas Gordon, Paul Graham, Jörg Immendorff, Anselm Kiefer und Luc Tuymans zu sehen. Erstmals hat das Kunstmuseum Wolfsburg seine Schau nicht komplett aus dem eigenen hochkarätigen Sammlungsbestand generiert, sondern zwei zum Thema passende GastkünstlerInnen geladen: Sophie Calle und die Biennale-Preisträgerin Annette Messager.
Auch wenn das menschliche Gedächtnis nicht mit der Festplatte eines Computers mithalten kann, auf der Unmengen an Wissen präzise abrufbar gespeichert werden, sind die Prozesse des menschlichen Erinnerns und des Vergessens komplex und rätselhaft. In der Ausstellung geht es jedoch nicht um "ästhetische Gedächtnisforschung", sondern vielmehr um den Umgang mit Geschichte und Erinnerungen. Dabei stehen sowohl individuelle Erlebnisse als auch die kollektiv erfahrene Vergangenheit im Mittelpunkt der Betrachtung.
Bereits in den 1970ern hatte der Kunstkritiker Günter Metken eine Tendenz der Kunst, sich analytisch mit der Konstruktion und Rekonstruktion von Erinnerung und Geschichte zu befassen, diagnostiziert und sie mit dem Schlagwort "Spurensicherung" etikettiert. Christian Boltanski gilt als einer der Hauptvertreter dieser Kunstpraxis. Sein Oeuvre hat vorrangig archivarischen Charakter. Die vielteiligen, raumgreifenden Arbeiten bestehen aus akribisch gesammelten Dokumenten und vergrößerten Photos. >Menschlich< stellt die Essenz seines bisherigen Schaffens dar. Die insgesamt 1300 Photos umfassende Arbeit, von denen 1000 in der Ausstellung zu sehen sind, speist sich aus dem Material vorangegangener Projekte wie >Dètective< (1973) oder >Die toten Schweizer< (1990). Junge und alte Menschen, Männer und Frauen, im Detail oder komplett starren einen von den von oben bis unten komplett mit Photos behangenen Wänden an. Aus den abgelichteten Einzelschicksalen ist eine anonyme Menschenmenge geworden, die individuellen Erinnerungen gehen in der Masse unter. Die Spur verliert sich.
Auch Anselm Kiefer blickt in seiner Arbeit >20 Jahre Einsamkeit< (1971-91) auf eine Phase seines Schaffens zurück. Nicht jedoch die Summe seines Oeuvres wird hier zur Schau gestellt, sondern dessen Reste. Pyramidenartig hat Kiefer die Leinwände und unvollendeten Bilder aufeinandergestapelt, die er in der Zeit zwischen 1971 und 1991 verworfen hatte. Auf Schutt und Erde ruhend und mit Bündeln vertrockneter Sonnenblumen verziert, verweisen sie auf gescheitertes Kunstwollen und zurückgewiesene Ideen - Momente, an die sich der Künstler nur ungern erinnern mag.
Ganz anderer Art sind die Reste, die Annette Messager in > Les Restes< (1998) zusammengetragen hat. Um die Überbleibsel eines Bären, Esels und Panthers aus Plüsch sind die knallig bunten Fragmente verschiedener Stofftiere gruppiert. Als typische Repräsentanten von Kindheitsklischees sind sie genauso separiert, wie die Bruchstücke unserer eigenen Kindheit, derer wir uns gewahr sind.
Neben solchen auf Individualschicksale abzielenden Arbeiten sind es vor allem die Werke von Paul Graham und Sophie Calle, die sich mit dem Umgang mit Geschichte auseinandersetzen. Auffällig ist, daß sich keiner der beiden auf die Historie des eigenen Heimatlandes bezieht. So dokumentiert Sophie Calles >Die Entfernung< (1996), wie kommunistische Embleme und Denkmäler nach und nach aus dem ehemals sozialistischen Ostberliner Stadtraum verschwinden und nur noch in den Köpfen einiger weniger imaginiert werden können. Einmal unwiederbringlich gelöscht, ist die Rekonstruktion von Erinnerung stets an das Gedächtnis anderer gekoppelt.
Im Gegensatz zu der Willkür unserer Erinnerung scheinen die einzelnen künstlerischen Positionen mit Bedacht gewählt. So ist >Spurensuche. Vergessen und Erinnern in der Gegenwartskunst< ein Beweis dafür, daß es uns hin und wieder doch gestattet ist, die Arme "around a memory" zu legen und sie festzuhalten...
Abbildung: Christian Boltanski, Menschlich, 1994
>Spurensuche. Vergessen und Erinnern in der Gegenwartskunst<
28.02 - 13.08.2006
Kunstmuseum Wolfsburg
Porschestraße 35
38440 Wolfsburg
Tel.: 05361-2669-0
kunstmuseum-wolfsburg.de
Stefanie Ippendorf
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