Ausstellungsbesprechung: Die Kunst der Entschleunigung – Bewegung und Ruhe in der Kunst von Caspar David Friedrich bis Ai WeiWei
Seit dem jüngsten Erdbeben in Japan dreht sich die Erde pro Tag um 1,6 Mikrosekunden schneller. Auch unser Leben scheint sich in den letzten Jahren immer spürbarer beschleunigt zu haben: Nachrichtenticker werden minütlich aktualisiert, wenn die S-Bahn sich um vier Minuten verspätet, geht eine angespannte Nervosität auf dem Bahnsteig um. Also versuchen wir, durch unterschiedlichste Methoden zur inneren Ruhe zu finden. Denn oft besteht das Gefühl, wir müssten jetzt bremsen bevor es zu spät ist. Für den einen ist Golf die pure Entspannung, für den andern Yoga oder Meditation. Das Kunstmuseum Wolfsburg will eine weitere Möglichkeit bieten: Die Ausstellung „Kunst der Entschleunigung“ hat die Bewegung und die Ruhe in der Kunst von der Romantik bis zur Gegenwart zum Thema. Mit 150 Werken von 80 Künstlern lädt das Museum zum Aushaken aus der schnelllebigen Zeit und zum Nachdenken über die Geschwindigkeit des Lebens ein.
Ganz langsam geht es mit Jonathan Schippers „The Slow Inevitable Death of American Muscle“ (2007/08) los: Mit einer Geschwindigkeit von nur einem Millimeter pro Stunde lässt der amerikanische Künstler vor der Eingangstür des Museums in seiner Installation zwei Autos in einem simulierten Unfall aufeinander stoßen. Über die gesamte Ausstellungsdauer von fünf Monaten wird sich diese Arbeit Stück für Stück fortbewegen. Das Konzept ist überzeugend, erfordert aber Vorstellungsvermögen: Der Besucher sieht, außer wenn er mehrfach das Museum besucht, zwei vollkommen stillstehende Autos und kann nur erahnen, wie sich die Installation weiterentwickeln wird.
Im Innern wurde die große Halle des Museums durch abgerundete Wände in ein Oval geformt, welches der Besucher wie eine Spirale abläuft. In diesem Oval befinden sich mehrere kleinere, quadratische Räume, die mithilfe schwarzer Wände und schwacher Beleuchtung die eher ruhigen, kontemplativen Werke der Ausstellung präsentieren. Hier findet man zum Beispiel Mark Rothkos Farbkomposition „Pink, Brown, Orange“ (um 1958) oder Giorgio de Chiricos „Malinconia“ (1955/56). Die abgetrennten Räume erlauben Intimität und persönliche Ruhefindung, wären jedoch effektiver wenn sie noch kleiner wären.
Ruhepausen sind nötig, denn außerhalb dieser Räume geht es ruhelos weiter: Gemälde der Futuristen (darunter Giacomo Ballas „Velocità + Luci“, 1913) verherrlichen die durch neue Technik entstandene erhöhte Geschwindigkeit. Dziga Vertovs Film „Der Mann mit der Kamera“ (1929) verfolgt rastlos das schnelle Leben auf den Straßen der Städte und Jean Tinguelys Maschinenskulptur „Char MK“ (1966/67) kann per rotem Knopf und mit lautem Geräusch in Bewegung gesetzt werden.
Auch viele der neueren Werke beschäftigen sich mit der erhöhten Geschwindigkeit der Welt: Nam June Paiks große, über 200 Fernseher umfassende Installation „Stock (Brandenburger Tor)“ (1992) ist durch die schnellen Schnittfolgen mit denen die Nachrichtenausschnitte in grellen Farben präsentiert werden schwindelerregend. Ähnlich funktioniert Julius Popps Installation „bit.fall“ (2001-2006), bei der Wassertropfen, welche durch Drüsen von der Decke fallen, Wörter bilden, die besonders oft auf der Tagesschau Website vorkommen. Die sehr schnelle Abfolge der Begriffe erlaubt dem Leser keine Zeit, das gerade Gelesene in einen Zusammenhang zu bringen. Popp will durch die Installation auf die Informationsflut der heutigen Medien aufmerksam machen.
Bei den meisten Werken in der Ausstellung ist die Verbindung zum Thema der Ent- bzw. Beschleunigung nicht nur einleuchtend, sondern auch ungewohnt und lehrreich. Bei einigen Arbeiten jedoch wie Joseph Beuys Installation aus Filzplatten „Fond IV/4“ (1970-74) oder Andy Warhol’s Siebdrucken „Campbell’s Soup“ (1968) ist der Bezug zum Thema eher schwer nachvollziehbar.
Der ständige Wechsel zwischen schnell und langsam macht die Ausstellung aber insgesamt spannend und zum Erlebnis der Sinne. Wirklich zur Ruhe kommt man jedoch auch hier nicht; die Ausstellung ist groß und viele der Arbeiten verlangen viel Aufmerksamkeit. Trotzdem erlaubt die Ausstellung eine vom Alltag abgetrennte Auseinandersetzung mit einem Thema, das unseren Alltag fast unmerklich aber unabwendbar eingenommen hat.
Die Kunst der Entschleunigung – Bewegung und Ruhe in der Kunst von Caspar David Friedrich bis Ai WeiWei
Kunstmuseum Wolfsburg
Hollerplatz 1
38440 Wolfsburg
Ausstellungsdauer: 12.11.2011 – 09.04.2012
Öffnungszeiten: Di 11-20 Uhr, Mi-So 11-18 Uhr
Gleichzeitig läuft die Ausstellung Henri Cartier-Bresson – Die Geometrie des Augenblicks noch bis 15.05.2012.
Eintritt für beide Ausstellungen: €8/€6 mit Bahncard 50/€4 ermäßigt
kunstmuseum-wolfsburg.de
Teresa Reichert
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