„Radiophonic Spaces“ im Museum Tinguely in Basel ist eine ungewöhnliche Ausstellung, eigentlich eher eine Ausstrahlung. Der Titel ruft Installationen wie „Radio No. 1“ in Erinnerung, die Jean Tinguely 1960 für das New Yorker Museum of Modern Art schuf. Sie zerstörte sich vor einem verblüfften Publikum selbst – lange vor dem Schredder-Coup, den Banksy jüngst bei Sotheby‘s inszenierte.
Die Radiophonic Spaces hingegen hat man nicht vor Augen, sie finden zwischen den Ohren statt. Darauf muss und sollte man sich einlassen. Wer sich ein farben-und formenfrohes Spektakel erhofft, wird bei der Ausstellung, die bis zum 27. Januar läuft, womöglich irritiert sein. Allein Tinguelys an der Frontwand der Sonderausstellungsfläche fest installiertes Werk Méta-Maxi-Maxi-Utopia repräsentiert die bildende Kunst.
Den Besucher erwartet ein nüchterner, lediglich durch einige Sitzmöbel aufgelockerter Parcours mit dreizehn Forschungs- und Computerstationen. Die Gestaltung dieses minimalistischen Raumensembles stammt vom Istanbuler Künstler, Architekten und Musiker Cevdet Erek, der mit seinen Beiträgen im türkischen Pavillon auf der 57. Biennale di Venezia sowie auf der documenta 13 international auf sich aufmerksam machte.
Der Besucher ist eingeladen, sich auf einen akustischen Streifzug durch 100 Jahre Radiokunst zu begeben. Mit einem vorprogrammierten Smartphone und Kopfhörer ausgestattet, mäandert er durch den Parcours. Je nach Standort empfängt er an den dreizehn Stationen verschiedene Musik- und Höraufnahmen. Diese lassen sich per Wischbewegung auf dem Display des Smartphones auswählen oder abbrechen. Die Auswahl landet automatisch in einer persönlichen Wishlist, der sogenannten Mindmap.
In aller Ruhe kann der Besucher die Stationen dann nacharbeiten und die Vernetzung von Stücken, Personen und Orten verfolgen. Wohl keine Mindmap wird einer anderen gleichen, denn jede spiegelt den individuellen Weg, die Vorlieben und Interessen des jeweiligen Besuchers wider.
Der Besucher werde zur „menschlichen Sendersuchnadel“, wie man sie vom guten alten Transistorradio kennt, erklärt Nathalie Singer. Die Professorin leitet das wissenschaftliche Forschungsprojekt Experimentelles Radio an der Bauhaus-Universität Weimar. Ein Team von Radio KünstlerInnen und ForscherInnen hat in Weimar ein Archiv von 9000 Stücken angelegt – viele lange vergessen in den Archiven der öffentlich-rechtlichen Sender. Aus diesem Forschungsprojekt ist das Konzept zur Ausstellung hervorgegangen.
Die über 200 für die Ausstellung ausgewählten Arbeiten reichen von Experimenten aus der Frühzeit des Radios bis hin zu heutigen Produktionen. „Radiophonic Spaces versteht sich als experimentelles Archiv, das weder Vollständigkeit noch Abgeschlossenheit beansprucht“, betont Nathalie Singer.
Museumsdirektor Roland Wetzel und seine Mitarbeiter hat nach eigenem Bekunden die Frage, was Radio sei, im Vorfeld der Ausstellung lange umgetrieben. Ein Gerät? Ein Sender? Ein Kunststück? Dabei seien die Antworten darauf mannigfaltig gewesen, bis hin zu: „Radio ist eh tot – es gibt jetzt Podcast“.
Dreizehn Kategorien oder Narrative, wie die Ausstellungsmacher sie nennen, orientieren den Besucher nun bei seiner Erkundung des radiophonen Raumes. Sie tragen Titel wie „Plattengeschichten“ „Tor zum Unbewussten“ oder „Das Radio denkt über sich nach“.
Das Publikum stößt in diesen Kategorien zum Beispiel auf die lange verloren geglaubten, Grammophon-Aufnahmen der Stücke von Paul Hindemith aus der Rundfunkversuchstelle (1930) oder auf die „Möglichkeiten des Grammophons“, die Lázló Moholy-Nagy 1923 am Staatlichen Bauhaus in Weimar erprobte.
Wer Zeit und Muße mitbringt, kann sich in Hörspiele versenken wie etwa „Der Hauptmann von Köpenick“, das Helmut Käutner 1945 aufnahm. Zeitgenössisch ist dagegen eine österreichisch-schweizerische Produktion mit dem klangvollen Titel „Gärten, Schnäbel, ein Mirakel, ein Monolog, ein Hörspiel“ von Friederike Mayröcker (2008).
Auch kann man das Phänomen der „Funkstille“ erforschen, die entweder als Signalstörung, bewusst eingesetztes Stilmittel oder als Pausenzeichen eintritt. In Sendepausen spielt der Schweizer Rundfunk beispielsweise das Lied „Z‘Basel an mym Rhy“, das wohl jedem Schweizer vertraut ist. Funkstille kann aber einfach auch ein Aussetzer sein wie das berühmte Blackout eines Sprechers des Bayerischen Rundfunks, der als übermüdeter Vater eines kranken Kleinkindes am Mikrophon eingeschlafen war. Die PR-Abteilung des Senders ging offensiv mit diesem allzu menschlichen Missgeschick um und löste eine Welle der Sympathie aus.
So tut sich von Station zu Station ein ganzes Kaleidoskop rund um die Radiophonie auf, von den großen Höhepunkten bis hin zu kleinen Anekdoten. Es ist keine leicht konsumierbare, sondern vielmehr eine sperrige Ausstellung mit einem überwältigenden Angebot an Fundstücken und der Möglichkeit, seine persönliche Hörer-„Mindmap“ zu erstöbern.
Manch älteren Besucher mag die digitale Technik überfordern, manch jüngerem das entschleunigte Tempo nicht behagen. Doch genau diese ungewohnten Anforderungen gehören zum Konzept. „Am Anfang war das Experiment“ – an die Devise haben sich die Macher von Radionphonic Spaces gehalten, erklärt Roland Wetzel. Ein Konzept, das ebenso konsequent wie mutig ist, auch wenn im Museum Tinguely, anders als seinerzeit im MOMA, kein Radio explodiert.
Museum Tinguely | Paul Sacher-Anlage 1 | Postfach 3255 | CH-4002 BASEL
Telefon + 41 61 681 93 20 | Telefax + 41 61 681 93 21
Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag 11 - 18 Uhr | Montag geschlossen
www.tinguely.ch
Inge Pett
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